Meersburg, 6. November 2006, Sabrina Moserbacher
Warum,
hatte ihn Doris gefragt,
warum fährst du zu diesem Präsidententreffen ? Sie saßen in der Küche beim
Abendbrot. Ein paar Minuten später würde sie aufstehen und zum Nachtdienst
gehen. Michael schwieg. Sie lebten im Windschatten der großen Politik, ja,
eigentlich im Abseits. Ihr Leben hatte rein gar nichts mit Wahlen, Gesetzen,
Parlamentsmehrheiten und Kriegen zu tun. Wenn sich also zur alljährlichen
BodenseePräsidialKonferenz, kurz BPK, die Präsidenten der Anrainerstaaten
Schweiz, Österreich und Deutschland, neuerdings auch Lichtenstein, trafen,
wobei es letzterem als Fürstentum offensichtlich darum ging sich, wie Bolivien,
einen Zugang zum Meer zu erhandeln, so lag das weit außerhalb ihrer Lebensalltäglichkeit.
Zudem würde es eine reine Folklore Veranstaltung werden, ein Event für die
Regenbogenpresse, Dank des Erbprinzen mit seiner Sissy und Ludwig 2 Urenkelin,
ausgestrahlt in den abendlichen Tagesnotizen und schon übermorgen vergessen.
Doris fragender Blick und Michaels Schweigen dehnte sich übers Käsebrot,
Wolkenberge der Sinnlosigkeit auftürmend. Ihr waren die hohen Herren samt ihrer
Frauen Schnurzpiepe. Ob sie sich trafen, mit einander redeten und Reden hielten,
das hatte nicht die mindeste Auswirkung auf ihr Leben und auch nicht auf Michas.
Er vermied es über Köhler, den deutschen Bundespräsidenten, laut
nachzudenken. Die schiere Masse im Verhältnis zu Österreich und der Schweiz
schien den beiden nicht den geringsten Raum zu lassen. Außerdem war es
parteipolitisch unklug diesen CDU Präsidenten weitere Aufmerksamkeit zu widmen.
Vielmehr ging es ihm um die Sozis Leuenberger und Fischer, der eine, der
Schweizer, der andere, der Österreichische Bundespräsident , die somit
erfrischende Farbtupfer ins Bild sparsamer Biederkeit christlicher Grundanständigkeit
klecksten. Hieß das nun, die beiden wären nicht anständig ? Gewiss nicht. Und
ob sie weniger christlich waren, stellte noch eine ganz andere Frage dar. Als
wenn das Christentum die politische Mitte und Mehrheit bedeuten würde, um die
sich da die Geister stritten.
Nachdem
Micha die Frage der Bedeutung dieser Herren hinweggeschwiegen hatte, murmelte er
so etwas wie : Er würde gerne den Leuenberger und den Fischer reden hören, was
sie so zu sagen hätten. Vielleicht könnten sie ja ein paar Lichter setzen.
Doris lächelte. Als wenn er im Dunklen lebte mit ihr, als wenn sie nicht wüssten,
wohin sie ihr Lebensschiff steuerten und vor allem, als wenn ihnen solch Lichter
nützen könnten angesichts des Fahrwassers der Notwendigkeiten, in dem sich ihr
Kanalschiff bewegte.
Ein
malerisches Örtchen an den Gestaden des Bodensees, eine viertel Stunde mit der
Autofähre gegenüber von Konstanz gelegen. Der Duft touristischen Mittelalters
vermischt mit einem Hauch Renaissance wehte märchenhaft durch bunte Gassen
rings um Burg und erzbischöfliches Residenzschloss. Schulkinder, Touristen,
Hausfrauen, Arbeitslose, Rentner, zwei, drei Hundert halten Maulaffen feil, gibt
doch solch ein Präsidententreffen eine nicht alltägliche Attraktion ab.
Entsprechend presst die Staatsmacht aus den alten Gemäuern ihren Dunsthauch von
Geschichtlichkeit. Es soll doch bedeutsam, schön und feierlich sein. Jubelrufe
beim Nahen der ersten wagen, der Polizeihelikopter in der Luft kündet, es ginge
gleich los. Michael hat keinen Bock sich auf Historienschinken einzulassen,
sprich seine Phantasie einzutunken in Vergleichungen von wie es schon immer war
und heute wieder aussieht.
Im
Eingangssaal des Residenzschlosses der kleine Leuenberger als Schweizer Gnom
neben dem kleinen Fischer, neben dem knapp überragenden Köhler. Ergo :
Politiker sind immer klein. Lächelnde Eintragung in goldene Bücher. Öttinger,
der Baden-Württembergische Ministerpräsident und politischer Ziehsohn Köhlers,
tauchte auch kurz auf, bevor er wieder in der Versenkung verschwand. Ja, Köher
tut so einiges, um ihn und sein Baden-Württemberg voran zu bringen. Hatte Micha
auf den bundespräsidialen Terminplaner gesehen, so schien er eine Rückwendung
hin gen Südwesten auszumachen, sprich eine Abwendung vom östlichen Frust. Sekt
zum Familienfoto auf der Schlossterrasse mit Sicht auf Bodensee bis hin nach
Mainau, wunderschön unter Ausschluss der Presse, die währenddessen neidische
Missgunstäußerungen ablässt. Über die da oben wird immer gelästert. Die
Prinzessin ist eine Wittelsbacherin, der Prinz verkrampft die Lachmuskeln beim Zähne
zeigenen, Moritz lächelt auch mal und Fischer gibt die Wiener Oper, die drei
Damen plus einer, oh Beatrice, posieren noch für Fotos, während die Herren
sich zum Gespräch nach oben zurückziehen.
Im
Vorübergehen hört Micha die Prinzessin einen Namen nennen : Ilse. War das
Zufall oder woher wusste sie Bescheid ? Ilse Goldner war Personalchefin der
Luzerner Dampferflotte. Über den Sommer hatte Michael einen Job auf den
Seeschiffen. Er hoffte dadurch, dass er sich gut stellte mit Ilse, im nächsten
Sommer einen besseren Job zu bekommen. Wenn nun die Prinzessin Bescheid wusste,
dann hatte sie auch Macht. Er hatte also schön lieb zu sein zu dieser Märchenprinzessin.
Ein böses Wort und ihre Leute würden dafür sorgen, dass er weiter in den
Steinbrüchen schaffen musste. Ja, dahinter steckte die Angst vor den Untieren
in der Unterwelt der Gesellschaft. Nach wie vor streifen sie durch die Berge und
Täler der Alpen, derart als dass noch der kleinste Hügel zu einem Bergmassiv
gehört, was mithin die neo-feudalen Verhältnisse der Moderne umschreibt, in
der die damaligen Ländereien vertauscht erscheinen mit Markt- und
Unternehmensanteilen. Ja, er war nichts weiter als ein entlaufener Leibeigner,
der im Hier und Jetzt der Gegenwart als Arbeitsloser keine Ahnung davon hatte,
dass die Burgen als Schlösser wegen
der Kälte ins Tal kamen und nun mehr in steuerfreie Paradiese abwanderten, wenn
sie nicht gleich als Luxusyachten zu schwimmenden Palästen umfunktioniert
wurden oder getarnt als Luxushotel ihre Unkosten selbst erwirtschafteten, wie
Microsoft Gates es jüngst mit der Übernahme der Hotelkette Four Seasons
zeigte. Aus diesem Gesichtswinkel erschienen diese präsidialen Herrschaften
ihrer Körpergröße entsprechend : klein, kleiner, am kleinsten. Einzig der
Erbprinz zeigte eine gewisse Größe, diese zum Winken nutzend, er habe für
seine Freunde besonders günstige Steuersätze im Angebot.
Im
Saal einige schreibende Kollegen, geduldiges Warten, im Hintergrund die
TV-Kameras, vorne ein Tisch, hinter denen die vier Länderflaggen den jeweiligen
Platz bezeichneten. Michael hätte gerne weiter vorne gesessen, d.h. er wäre
gerne von Leuenberger und Fischer gesehen worden. Er könnte dies allerdings
noch erreichen, wenn er eine Frage stellte, sich also hervortat mit
konstruktiven Beiträgen, die die da vorne und oben entsprechend anregen würden.
Nun ja, mal sehen. Köhler entschuldigte sich für sein Zu Spät Kommen - der
Flieger sei Schuld, wahrscheinlich ein Sabotageakt der Berliner Genossen, was
auch eine Form exzeptioneller Politik im Verhältnis zur USA und den anderen
darstellt. Natürlich passte die Fliegergeschichte zu Leuenbergers Gesprächen
mit Tiefensee über den Flughafen Züri. Und wieder hob Köhler als ein
Deutscher die kommende EU-Präsidentschaft hervor, als wenn von dieser mehr zu
erwarten wäre als von der finnischen zur Zeit. Auch der Hinweis auf
Leuenbergers Afrikareise schien diesen eher als einen deutschen Boten zu
vereinnahmen. Auf der UNO Konferenz in Nairobi wird vor allem über den
US-demokratischen Umweltvorstoß von Al Gore debattiert werden.
Österreichs
Fischer lobte den offenen, guten, den ideenreichen Austausch, was zur
moderierenden Übergabe des Worts durch Köhler passte. So kurz sie war, so
klang sie doch unwirsch bis widerwillig. Zwischen den beiden stimmte etwas
nicht. Michael wusste nicht, worum es bei den zweien ging, außer eben, dass sie
verschiedenen Parteien zugehörten. Schon kam Fischer auf Grenzen zu sprechen,
die in Mitteleuropa durch knappe Wahlausgänge gekennzeichnet seien, man höre,
man höre, was überleitete zu den innerösterreichischen Problemen der
Regierungsbildung, die analog zu Deutschland in eine Große Koalition einmünden
sollten, allerdings unter Vorsitz seiner SPÖ . Auch wies er daraufhin, er sei
ein Freund der EU-Verfassung, die die Franzosen per Volksreferendum ablehnten.
Michaels Herz begann wild zu klopfen : Das war ein Stichwort, ein Vorlage zum
Kopfballtor : die EU-Verfassung, was hielt Leuenberger davon ? Und Köhler wäre
ausgeschaltet. Tor, Tor, Tor !
Dem
naiven Denken von Journalisten, die darauf geeicht sind herauszubekommen, was
die da oben hinter verschlossenen Türen besprachen und welche Position sie bezüglich
bestimmter Entwicklungen, wie der österreichischen Regierungsbildung beziehen,
lässt sich im parteiischen Zusammenspiel mit den einen leichter herausarbeiten,
denn letztlich sind es nicht die Politiker, sondern die Medienschaffenden, die
die Politik bestimmen.
Fischer
berichtete weiter von Österreichs Bemühungen auf dem West-Balkan, sprich von
der Integration Kroatiens, Montenegros, Mazedoniens, das sich kürzlich von
Serbien lossagte und Bosniens. Ja, das schienen Michael alte Österreichische
Politiken, die die Kompetenz Wiens gegenüber Berlins herausstrichen und wohl
den substantiellen Grund für Köhlers Verstimmung bilden mochten, wenn nicht
gar … !? Hatte der deutsche Bundespräsident es etwa gewagt, den Führungsanspruch
Österreichs auf dem Balkan, insbesondere aber den der SPÖ im Lande selbst in
Frage zu stellen ?
Leuenberger,
der Micha als steinern und leblos beschrieben wurde, schien diesem Bild gar
nicht zu entsprechen. Als die Reihe an ihn kam sprudelte seine Mimik förmlich
unter den Wellen des in ihm tätigen Geistes, der sich Ausdruck zu geben suchte.
Für ihn, als einjährigem Turnuspräsidenten der Schweizer, gab es neben diesem
Treffen noch das frankophone mit Chirac. Offensichtlich hieß das, die Schweizer
unterhielten keine regelmäßigen Treffen mit den Römern. Zurückhaltend wies
er auf die Volksabstimmung zur Erweiterungsmilliarde hin, was der Schweizer
Beitrag zur EU sei.
Lichtenstein,
nun ja, die Tage sind gezählt, ansonsten aber trat Michael in den Streik, sich
weitere Gedanken zu diesem Zwergstaat und dessen Äußerungen zu machen. Seine
Verweigerungshaltung konnte jedoch nicht umhin wahrzunehmen, dass es sich im
Politikverständnis dieses Erbprinzen offensichtlich um den leidigen Versuch
handelte, die Österreicher gegen die Schweizer auszuspielen, was die beiden
jedoch in keinster Form mitmachten, so dass seine Rede angesichts der
Streikdrohungen in eine geschliffene Trotzphase einmündete.
Die
Statements waren absolviert, es folgten die Fragen der Presse. Schon meldete
sich Micha, ein glatter Streber, und tatsächlich, man reichte ihm das Mikrofon.
Was denn Leuenberger, wenn er denn über die EU-Verfassung nachdächte, dieser
hinzufügen wollte ? Er spekulierte auf das Konsensualprinzip der Schweizer,
doch nichts dergleichen erwiderte Leuenberger. Das Prinzip des Fischerschen Föderalismus,
insbesondere aber die Möglichkeiten der Volksabstimmung seien im Gegenzug zur
Abgabe von Souveränitätsrechten zu stärken. Nach weiteren Fragen anderer
schloss sich eine österreichsche Kollegin aus dem Vorarlbergischen Jagdrevier
mit der Fangschussfrage an, was denn ihr Fischer so föderalistisch am jetzigen
Verfassungsentwurf fände. Nun ja, war es der Luftblase einer Bachforelle zu
entnehmen, neben dem Parlament seien es doch die Rechte des Ministerrates. Als wären
nicht gerade die maßlos überzogen, so dass sie das EU Parlament zu einer
Marionettenbude degradierten. Die Zeit war um, Sprechstunde vorbei. Auf
Wiedersehen. Ein TV Kommentator stellte vor laufender Kamera zu diesem Treffen
fest : Substanzlos, nichts neues, wir müssen halt sehen, was wir daraus machen,
um unsere Nachrichten zu verkaufen. Adé.
Und,
wie war es ?, fragte Doris am Abend. Sie hatte noch drei Nachtdienste vor sich
und war ziemlich müde. Nun ja, nichts besonderes, meinte Micha, Leuenberger ist
echt Spitze, ein leuchtender Juwel am Schweizer Polithimmel. Weißt du, sein
Hinweis auf die Verankerung einer EU Volksabstimmung in der EU Verfassung
beschert die Möglichkeit, das Votum eines einzelnen Landes, wie Frankreichs,
durch das Votum aller EU Bürger zu umgehen. Ist doch raffiniert, oder ? Doris
wischte sich die Augen. Wie ? Was ? Ich habe nur Bahnhof verstanden. Welche
Verfassung ? Micha : Nun, es kann doch nicht weiter angehen, dass ein Land sich
querstellt und eine ganze Entwicklung verhindert. Dieser Ohne-uns-Haltung gilt
es doch Grenzen, aber auch Möglichkeiten zu setzen. Eben, je nach dem oder wie
stimmst du bei deinen Volksabstimmungen ab ?
Weiß nicht, interessiert
mich im Moment auch nicht, ich muss jetzt los. Tschüss. – Tschüss.