Gargantua

Daumier im Kunsthaus Zürich, im Februar 2008,  SM

Für 6 Monate sperrten sie ihn wegen Majestätsbeleidigung ein. 1832, Paris.  Es war das Zeitalter der ersten Massenmedien: Zeitschriften, die mittels lithographischer Drucke satirische Bilder unters Volk brachten, die sogar dem hohen Anteil von Analphabeten verständlich vor Augen führten, was im Staat vor sich ging. Ihr Künstler, Honoré Daumier, verstand sich wie kein zweiter darauf, in kurzen Zeichenstrichen eine Karikatur aufs Blatt zu werfen, die treffend die Kritik an den Mächtigen zusammenfasste. Mit Gargantua betitelte Daumier  in seiner Karikatur Louis-Philipp, den Bürgerkönig. Überdimensional sitz er als typischer Bourbone auf seinem Thronstuhl, wobei auf seine ausgestreckte Zunge eine Art Katzenstiege angelegt ist. Sie reicht hinab bis in die Niederungen der einfachen Volksmenge, deren Menschen nun in normaler Größe erscheinen. Ein Laden des Bildes...livrierter Hoflakai steht vor dieser Volksmenge mit einer leeren
Kiepe, wie sie zur Weinlese verwendet wird. Ein
ärmlich gekleideter Mann wirft in diese leere Kiepe eine handvoll Geld, erbärmlich wenig im Verhältnis zum Fassungsvermögen der Kiepe. Hinter ihm Leute und betuchte Bürger aus dem Volk, die fassungslos und voller Entsetzen den Vorgang beobachten. Am Rand eine ärmliche Frau auf dem Boden sitzend, ein Baby an der Brust nährend. Auf der Stiege, ins Maul des Bourbonenkönigs, in der Höhe immer kleiner werdend, Kiepenträger, die schließlich mit ihrer Last im Maul des Königs verschwinden.

Unter dem Thronsessel, so als handle es sich um einen Kinderstuhl mit Nachttopf, offensichtlich eine Öffnung aus der Papiere, Dokumente und Gesetzestexte hervorquellen. Höfisch gekleidete Minister nehmen diese an sich und tragen sie zum Palais Bourbon, Sitz der Assemblée nationale française, auf der die Fahne der Französischen Revolution, die Trikolore, weht. Es ist das Parlament, in dem die Abgeordneten diskutieren und beschließen, was bei ihrem König hinten herauskam. Für diese zugespitzte Darstellung der Verhältnisse geht Honoré Daumier für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Das liberale Bürgertum mit ihrem Bürgerkönig verbietet sich solche anzüglichen Angriffe. Sie fürchteten die Mobilisierung des Volkes. Es könnte etwas an den ökonomischen Verhältnissen, den Eigentums- und Verteilungsstrukturen ändern. Ist diese Karikatur nun Geschichte? Oder lassen sich die Gestalten in modernisierter Form, transponiert in die Gegenwart, nachstellen? Umso mehr die einzelnen Figuren von 1832 als Metaphern für Menschen in bestimmten Verhältnissen, Strukturen und Milieus begriffen werden, umso mehr erweisen sie sich als ihre zeitlosen Repräsentanten. Staatsdiener, Steuereintreiber, Geschäftsleute, Bürger, Mütter mit Kindern, Arbeiter, Minister, Abgeordnete und an der Spitze? Assemblé National francaiseDer König, gewiss, damals, heute der Präsident, aber nur dieser? Ist es nicht vielmehr der Chefsessel, auf dem der Eine wie ein absoluter König sitzt und auf den hin das Ganze organisiert ist? Ein König ist er in seinem Bereich, ein kleiner König ist er in seinem Unternehmen, in seiner Organisation. Es geht mithin um die strukturelle Machtwillkür eines institutionellen Funktionalismus für den allerdings einiges spricht: Das Individuum als denkender, fühlender, wollender und aktiv unsetzender Mensch im Zentrum seiner selbst, befindet sich immer in einem Kreislauf eines gebenden und nehmenden gesellschaftlichen Miteinanders. Das Individuum kann nicht anders, als sich im Zentrum seiner selbst wahrzunehmen und auf sich hin die Dinge, die ihn betreffen, zu organisieren. Derart ist es im Gleichgewicht mit sich, der Natur und der Gesellschaft der Mitmenschen. Die Balance wahren, die Verhältnismäßigkeit herstellen, verhindert demnach die unförmige Unproportionalität einer aus den Nähten platzenden und bewegungslosen Spitzenstellung, die sich selber ad absurdum führt.