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Wolkenschieber

Hannover, Freitag, 13. Juni 2008, DG

 

Erst Kopfschmerzen, dann Schwindelgefühle, zunehmender Druck im Kopf, Übelkeit, Erbrechen, Einlieferung ins Krankenhaus, Diagnose: Bösartiger Hirntumor oberhalb des linken Ohres. Die Mutter erzählte es dem Sohn am Telefon während des Fußballspiels. Er ist schockiert, lässt den Fernseher samt Ball, Bier und Freund im Wohnzimmer stehen. Der Klang der Stimme von: Ich muss dir was sagen … den kannte er seit die Oma starb. Der Lebenspartner seiner Mutter war es. Wie sie erzählt, bemerkt er eine Freude in sich. Ganz tief und weit wegdrängt schimmerte eine Freude in ihm auf. Die durfte nicht sein, die war asozial, die war … unmöglich. Wieso freute er sich? Weil jetzt die Mutter wieder mehr Zeit für ihn haben würde? Weil dieser fremde Mann ihm die Mutter weggenommen hatte? Weil er nicht der angenehmste war. Oft waren sie aneinander geeckt. Aufbrausend, gemein, ungerecht, unwirsch, fies war er ihm vorgekommen. Es gab einige Gründe Freude zu empfinden. Andererseits hatte er sich auch gut mit diesem reiferen, älteren Mann verstanden. Wenn sie friedlich waren, dann fand er ihn richtig gut und hätte sich vorstellen können, es wäre sein Vater gewesen. Und für seine Mutter war er ein Glücksgriff: Ein starker Mann, an den sie sich anlehnen konnte, mit dem sie sich geborgen und sicher fühlen konnte. Sie lebte auf, sie zogen um und begannen ein neues Leben, fanden Freunde, Bekannte. Ihr ging es richtig gut mit ihm. Natürlich gab es auch Streit, aber insgesamt war es gut für sie. Was war das also für eine Freude? Er konnte sie sich nicht erklären. Sie durfte nicht sein. Er freute sich doch nicht, dass Er vielleicht sterben würde. Er? Wer war Er? Er oder Er? War das nicht auch schon das Geheimnis dieser Freude. Er war nicht Er, sondern ein anderer. Er würde überleben. Er war davon gekommen und würde weiter leben. Es war Lebensfreude. Tief untergründig zeigte sie sich angesichts des Todes: Noch mal davon gekommen, überlebt, noch weiter leben dürfen, noch weiter dieses Leben mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Sorgen und Freuden leben dürfen. Genauso untergründig wie diese Freude, fragte er sich: Was mache ich mit diesem, meinem Leben? Lebe ich es? Schöpfe ich das aus, was mir gegeben ist? Tränen schossen ihm als Glanz in die Augen und vermischten sich mit Wut. Er wusste, sie würde verrauchen, wie die Wut des Kindes, das sich schwor, es mache nun alles anders. Diese Wut, die Widerstände, die zumeist andere Menschen waren, zu überwinden, niederzumachen, zu zerstören und auszuräumen, sie würde vergehen, wie ein Sonnenstahl, der durch die dunklen Wolken brach und das Grün des Waldes, den blauen See und den sich auftürmenden Berg in sein goldenes Licht eintauchte. Gab es denn kein Mittel, keinen Trick, diese verrauchende Wut, die doch nichts anderes war als Lebenskraft, zu behalten? Hätte er es, er würde reich, er würde das Leben mit all seinen Blumen und Früchten, mit all seinen Schönheiten und Freuden bis zur Neige ausschöpfen. Aber er hatte es nicht. Es gab keinen Wolkenschieber mit dem er sich ein Löchlein durch die dunkle Wolkendecke frei schieben konnte. In der Arktis hämmerten sie die Eisdecke mit einem Pickel auf, um im Ozean Fische und Roben zu fangen. Aber einen Wolkenschieber, um das dunkle Grau am Himmel wegzuschieben, den gab es nicht.

 

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