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Überlegungen zur Gewerkschaftsentwicklung nach Inkrafttreten
des Lissabon Vertrages der Europäischen Union

UGT Madrid, Escuela Sindical de Julián Besteiro, im Dezember 2009, Dirk Glomptner

Unser Korrespondent vor Ort, Michael Welten, hatte Wind bekommen von einer Gewerkschaftstagung der UGT, der wohl größten Gewerkschaftsorganisation Spaniens. In einer von Zersplitterung, Grabenkämpfen und individueller Separation geprägten Gewerkschaftslandschaft, die ganz dem Ideal der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft entsprach, konnte der ahnungslose, also unwissende Arbeitnehmer, der also weder ein sozialistisches, anarchistisches noch kommunistisches Herkommen hat, auf diverse Gewerkschaftsorganisationen zurück greifen, denn der erfolgreichen Umsetzung des Mottos „divide et imperare“ gemäß, musste es sich in diesem Land um einen zerstrittenen Haufen von Gewerkschaften handeln. Sich gegenseitig auf den Füßen stehend, also sich behindernd, wäre von ihnen keine vernünftige Arbeitnehmer Vertretung zu erwarten, folgerte Welten weiter, weshalb er in seiner Denke strikt für Großorganisationen, Dachverbände und Holdings bis hin zur UNO, der EU und den G8 und G20 Organisationen eintrat. Nur mittels solcher zentralistisch und möglichst flach hierarchisierten Organisationen ließen sich effizient und darum ökonomisch die gravierenden Probleme dieser Welt, allen voran Überbevölkerung, Hunger, Armut und Umwelt, lösen. 

TagungDas Thema der Tagung kreiste um die zukünftige Entwicklung der Sozialpolitik, wobei in der Ankündigung noch stolz von der spanischen EU Präsidentschaft die Rede war. Doch wie stand es genau mit dieser durch das Inkrafttreten des Lissabon Vertrages in Frage gestellten spanischen Präsidentschaft? Eigentlich wusste niemand so genau Bescheid, schließlich ging es um die Gewerkschaften und die Sozialpolitik, mithin um ein Feld, das wenig von den Veränderungen an der Spitze der EU berührt war. Außerdem, was spielte es in einer digitalisierten und online vernetzten Kommunikations- und Fernseh-Gesellschaft für eine Rolle, wo der offizielle Ort des politischen Geschehens lag?, befand er sich doch immer auf den von gleißendem Scheinwerferlicht blank polierten Brettern der politischen Bühne, die nebeneinander gestellt, auf den Bildschirmen und in den Zeitungsspalten zu sehen waren.

Die Herrschaften hatten Platz genommen im Saal des Tagungsortes, einer Gewerkschaftsschule. Unter den rund 40 Funktionären der madrillener Oberschicht und einem zugereisten Franzose, Monsieur Henri Lourdelle, Rat des Europäischen Gewerkschaftsbundes, dessen Aufgabe darin bestand, aus Brüsseler, also aus EU Sicht, die Angelegenheiten zu beleuchten, fiel Welten, unrasiert und ohne Anzug und Krawatte, dafür in unauffälliger Kleidung des alltäglichen Straßenkampfes, unten durch. Kaum hatte der Franzose angesetzt auf französisch seinen Sermon zum Besten zu geben, ging Welten die Hutschnur hoch. Es war seine deutsche Abneigung gegenüber französischer Bevormundung, Beherrschung und charmanter Eleganz, die ihn zutiefst neidisch machte. Wenn es ihm so erging und zu solchen Auswüchsen inneren Aufruhrs führte, wie musste es dann selbst in den einander zugeneigten Organisationen, wie dem Europäischen Gewerkschaftsbund, zugehen? Eine Frage, die herunter zu brechen war bis auf die persönliche Ebene der einen Funktionärin, die der anderen zuhörte, denn als ein innerer Vorgang der Einschätzung und Bewertung der jeweils anderen, handelte es sich um verborgene, tiefenpsychologische Vorgänge, die tunlichst verschwiegen gehörten, damit die Harmonie und Effektivität der Arbeit in einer eh angespannten Lage nicht noch weiter belastet würde. Natürlich zeigte sich bei Welten diese Spannung zwischen ihren beiden Nationen als ein verdrängtes Spannungsverhältnis, in dem sich die gegenwärtige politische Konstellation zweier rechtskonservativer und darum nationalistischer Regierungen spiegelte, die jeweils zum Wohle ihrer Länder nach Vorherrschaft und Vorteilen strebten, wobei unter Vorteilen auf dieser Ebene vor allem personelle Besetzungen zu verstehen waren und weniger Vorteile für diejenigen, für die vorgeblich die ganze Arbeit gemacht wurde, mit nichten, wusste er sich doch zu beherrschen und störende Affekte, wie den ungestümen Reiz, zu hüsteln, mit Papieren ungehalten und raschelnd zu hantieren und vor allem, sich mit der Nachbarin auszutauschen, zu unterdrücken.

Auf europäischer Ebene sollte nun die Lösung dieser Problemlage durch die Schaffung eines neuen Organs auf höherem Niveau hergestellt werden. Durch das Inkrafttreten des Lissabon Vertrages meinte dies die Einrichtung einer festen Position, nämlich die des Präsidenten des Europäischen Rates. Der Europäische Rat wiederum war nichts anderes als ein Gremium, das sich alle halbe Jahre einmal traf. Freilich, es handelte sich bei seinen Mitgliedern um die Regierungschefs der europäischen Nationalstaaten, weshalb der neue Präsident dieses Gremiums in Brüssel und nicht in Straßburg, was der Deutschsprachigkeit vielmehr entgegen gekommen wäre, auch sogleich mit dem Résidence Palace als Amtssitz bedacht werden sollte.

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Als Auswuchs des Europäischen Rates der Regierungschefs hatte sich der Rat der Europäischen Union etabliert. Das war der Zusammenschluss der Fachminister, deren ranghöchstes Ressort, das des Außenministers, den Präsidenten stellte. Nach dem Rotationsprinzip wechselte dessen Präsidentschaft halbjährlich, so dass im Januar 2010 die spanische Präsidentschaft des Rats der Europäischen Union unter Vorsitz des spanischen Außenministers Miguel Ángel Moratinos wie gehabt in Spanien durchgeführt werden würde. Was sich mithin einzig geändert hatte seit dem Inkrafttreten des Lissabon Vertrages war, dass der spanische Präsident Zapatero dieser Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union als Präsident des Europäischen Rates nicht mehr vorsitzen würde.

Wie zu sehen, es handelt sich um ein Gewirr von schillernden Namen prächtig und mächtig scheinender Einrichtungen in den oberen Verästelungen dieses neuartigen Kunstgebildes „Europäische Union“. Unten, an der Basis, in der Lebensalltäglichkeit der Menschen, klingen diese Namen ununterscheidbar zum Verwechseln ähnlich. Wenn der Normalbürger, zugedeckt von seinen alltäglichen Problemen, deren Bewältigung ihn gänzlich einnimmt, kaum Kapazitäten hat selbst die in seinem Land vor sich gehenden politischen Grabenkämpfe zu verfolgen, geschweige denn, an ihnen mitzuwirken, so zeigen sich ihm die Strukturen des politischen EU Gebildes abweisend wie die Schmiede eisernen und Gold verzierten Zäune um die barocke Pracht absolutistischer Fürstenherrlichkeiten. Aus diesen Gefilden also war Monsieur Lourdelle als ein Lobbyist gewerkschaftlicher Interessen eingeflogen, um sich von seinen madrillener Hintersassen in der Provinz Verstärkung für sein nächstes têt-à-têt dans une rencontre zu verschaffen, denn das Inkrafttreten des Lissabon Vertrages hatte eine zweite, ungemein bedeutsame Neuerung mit sich gebracht: Nicht nur wurde eine feste, sich auf 2 ½ Jahre belaufende Amtszeit der Präsidentschaft des Europäischen Rates eingerichtet, sondern die Bildung eines Europäischen Diplomatischen Corps. Im Sozialgefüge der Brüsseler Würdenträger bedeutete das natürlich einiges Stühlerücken, also Platzmangel im europäischen Bewusstsein der Durchschnittsbürger, die nun mehr, neben dem Europäischen Rat und dem Rat der EU und dem Europarat, jeweils präsidial bemannt, auch noch mit der Hohen Repräsentantin für Auswärtige Angelegenheiten der EU, Ms. Ashton, samt ihrer hoch dekorierten Zuträger, den EU Botschaftern sowie den entsprechenden EU Ministerialdirigenten zu tun bekamen, so dass Monsieur Lourdelle als Gewerkschaftslobbyist dringend der zusätzlichen Feder der neu zu schaffenden Funktion des Gewerkschaftsdiplomaten bedurfte, natürlich in persona, denn Ämter- und Titelhäufung, die die Akkumulierung entsprechender Einnahmen mit sich brachte, galt als höchstes Kennzeichen von Effizienz in der Weise, dass generell Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur samt diverser Aufsichtsratsposten a priori unlösbar miteinander verschmolzen waren, sollte er auf gleicher Augenhöhe und nicht als Handlanger seines von der Masse der Aufgaben überlasteten Generalsekretärs, John Monks, im dschungelartigen Gestrüpp der inhaltlichen Zusammenhänge sozialpolitischer Fakten und national, also individuell gestalteter Regulationen erfolgreich verbindliche Konsensualentscheidungen zum Wohle seiner Klientel, den Arbeitnehmern im Allgemein und insbesondere für den kleinen und immer kleiner werdenden und letztlich darum immer weniger zahlenden Kreis der organisierten Arbeitnehmer herbei führen. In dieser Hinsicht unterschied sich die Gewerkschaft von der Kirche nicht.

Welten schaute auf und ließ seinen Blick der Reihe nach über die Gesichter der in dieser Runde versammelten Gewerkschaftsnoblessa gleiten, wobei ein Kühle zu wedelnder Fächer mit andalusischen Motiven seine Aufmerksamkeit einfing. Er war sich klar, dass das nonchalante Gesäusel Lourdells ihn längst ins Reich der Träume geschickt hatte, hatten ihn seine Übersetzungsleistungen doch ermüdet, so dass er in seinen Gedanken weit nachhing. Dunkle, glänzende Augen hinter dem Fächer schienen den Ausführungen Lourdells hingegen mit Hingabe zu folgen. Offensichtlich wusste Lourdelle die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerin mit neuesten Nachrichten aus jenem maßgeblichsten Nervenstrang des Zeitgeschehens, nämlich der Achse Paris–Brüssel, zu fesseln, so weit gehend, dass sie ihm von den Lippen ablesen zu wollen schien, was vor sich ginge in der großen, weiten Welt des obersten Machtgefüges der EU und der Gewerkschaftsbewegung. Wieder spürte Welten in sich eine giftig gallige Aufwallung von Neid und Missgunst gegenüber diesem Gewerkschaftsfuzzi. Wenn Englisch und Französisch die offiziellen Amtssprachen der Europäischen Gewerkschaftsbewegung waren, dann hatten Spanier und Deutsche und der ganze Rest natürlich zu spuren, um folgen zu können. In der Ökonomie wurde so etwas mit den Begriffen von natürlichen Standortsvorteilen umschrieben. Dass diese nichts anderes waren als die Festschreibungen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und in keinster Weise mehr den ökonomischen Verhältnissen, insbesondere der Gewichtung der Netto-Einzahlungen, geschweige denn der Bevölkerungs- und Mitgliederstärke entsprachen, bildete eine Ungerechtigkeit, die Welten in Anbetracht des andalusischen Fächers und der dahinter spiegelnden Augen zutiefst empörte. Seinem Gerechtigkeitssinn saß mithin ein Sein der Verhältnisse gegenüber, dem die Wirklichkeit von multinationalen Organisationen mit ihren spezifischen Schwierigkeiten der Zusammenarbeit inne wohnte. Für die Europäische Gewerkschaftsbewegung folgerte er daher die sich aus dem Inkrafttreten des Lissabon Vertrages zwingend ergebende Notwendigkeit, dass dem europäischen Zusammenschluss als Zusammenschluss der nationalen Zusammenschlüsse mehr Gewicht, mehr Bedeutung, mehr Einfluss und mehr Aufmerksamkeit zu stand, weil dies zum einen ein Gleichziehen mit den politischen Strukturentwicklungen ergab, zum anderen aber das zu lösende Problem einer weiteren Hierarchieebene, die die Verwaltung und Gewerkschaftsarbeit schwerfälliger und Basis ferner machte. Daraus entstand die Frage, wie dem entgegen gewirkt werden konnte. Wenn zum Beispiel die Gewerkschaftsschulen, die Rechtsvertretungen und die Tarifverhandlungen für die multinationalen Konzerne als Aufgabenbereiche des Europäischen Gewerkschaftsbundes von der nationalen Ebene auf die Europaebene delegiert würden, dann zöge dies eine entsprechende Entlastung der lokalen Gewerkschaftsverbände nach sich. Es bliebe abzuwarten, dachte Welten, wie sich die innergewerkschaftliche Diskussion diesbezüglich entfalten würde, wenn demnächst entsprechende Vorstöße des EGBs, vor allem aber Übernahmeangebote maroder Aufgaben- und Finanzbereiche diverser Teilgewerkschaften unternommen würden, denn der Bankrott klopfte, um nicht zu sagen pochte an die Türen so einiger Verbände.

Diese strategischen Vorüberlegungen verstanden sich quasi als eine Geheimsache, die einzig mit dem letzten, bedeutsamen Politaktor im Feld der europäischen Nationalverbände diskutiert werden konnte, der einigermaßen gesichert einer nachhaltigen, also längerfristigen sozialdemokratischen Regierungszeit entgegen sehen konnte. Alle anderen Verbände waren christdemokratisch, um nicht zu sagen völkisch neo-liberal, also von verräterischen Konservativen untergraben, wodurch die gesellschaftliche Frontstellung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung nicht so sehr zwischen Atheisten, also Kommunisten, und Kirchgängern, wie auch Welten, insbesondere zur Weihnachtszeit wegen der sakral-musikalischen Stimmungsausformung einer war, verlief, als vielmehr ganz klar Parteibuch orientiert, nämlich der parlamentarischen Zugehörigkeit der jeweils letzten Ausfüllung des Stimmzettels gemäß, die wiederum, seit Schröder, nicht mehr Deckungsgleich sein musste im Sinne der Übereinstimmung von Gewerkschafts- und Parteimitgliedschaft und Stimmabgabe, was einer weiteren Auflösung und damit Verflüssigung nun mehr augenscheinlich noch variabler und darum beweglicherer Abstimmungsmassen gegenüber den verfestigten Kapital- und Beschäftigungstrukturen der Meinungsmache bedeutete. Dies legte Welten den Schluss nahe, während sein Blick, die ausschnittsweise wahrnehmbaren Körperlandschaften zu ergründen suchte, die der kühlende Fächerwind umwehte, dass das Verhältnis der Gewerkschaften zum Kapital einfach nur ein durch Neid, Not und Kampf beherrschtes war und deshalb fragen ließ, wie die dann einmal nach erfolgreichem Klassenkampf zu Geld gekommenen nun mehr mit ihrem Kapital verfuhren, so dass Frei- und Großzügigkeit sowie Philanthropie als die menschlichsten Verhaltensweisen erschienen, vermittelten sie doch die Beständigkeit der Zuflüsse aus dem errungenen Eigentum, die nun mehr wiederum angemessen sozialisiert zu eben dieser Beständigkeit und sozialen Einbettung beitrugen.

Die Referenten kamen zu ihren Schlussworten. Zwei kritische Nachfragen, die zwei bündige Antworten zur Folge hatten, zeigten nicht nur, dass mitgedacht worden war, sondern wer bei kommenden Personalabstimmungen in den engeren Kreis der Aspiranten für die ausgeschriebene Position gehörte. Die Dame mit dem Fächer fand sich später bei gereichten Tapas und einem Glas Wasser im intensiven Gespräch mit Lourdelle, so das Welten das Fazit der Tagung für sich dahin gehend zog, die institutionelle Repräsentalbürokratie funktioniere am besten bei dem auf den Apéro folgenden Diner.



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