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WulffMerkelDas gewonnene Jahr

Ein Blitzlicht zur Bundespräsidentenwahl, 30. Juni 2010, Berlin, DG

Bundespräsident Köhler tritt zurück

Überraschend, wie aus heiterem Himmel, auf der Richterskala für Großereignisse wie 9/11 – Ulrich Hartmann hörte die Meldung im Bahnhofscafé von Halle. Auf einer Großbildleinwand eines TV Senders zerrissen sich die Moderatoren das Maul, hatten sie doch nun ganz viel zu erzählen, zu kommentieren, zu erklären. Es ging um ein Radio Interview vom 22. Mai, in dem Köhler sich zur Wahrung deutscher Interessen für einen militärischen Einsatz aussprach – das war gegen das Grundgesetz und spiegelte deutlichst die herrschende Meinung in Berlin wieder, reichte aber dazu, dass ihn die Kritik an seiner Äußerung zum Rücktritt bewegte, wie er vorgab. Nun bedauert ihn die breite Medien Mehrheit, dass er wegen so einer Lappalie zurück tritt, folgerte Hartmann. Diese Lapalie sei keine Lapalie, meinten andere. Alle Versuche, sie dazu zu machen, bedeuten Kriegstreiberei und den Versuch, Deutschland wieder zu einer Militärnation zu machen. Dennoch oder gerade deswegen, weil es sich um solch eine bedeutsame Angelegenheit handelte, war es ein historischer Fingerzeig dieses Bundespräsidenten diesen Anlass als Begründung für seinen Rücktritt zu nehmen. Ob es allerdings zwingend notwendig war blieb ungeklärt, denn die treibenden Kräfte für einen Rücktritt Köhlers mochten ganz anderer Natur sein. Hartmann sah diese vor allem in der sich verdichtenden politischen Entwicklung seit der NRW Wahl, die die CDU / FDP Koalition um die Mehrheit im Bundesrat brachte. Das Pendel der politischen Bewegung schwang sich in die andere Richtung mehr auf das linke Spektrum zu und angesichts einer solchen Tendenz schien Köhler nicht mehr der richtige Mann im Amt zu sein, deshalb, so schlussfolgerte Hartmann, warf er das Handtuch solange noch die Mehrheiten für sein Team stimmten.

30. Juni 2010
Mittwoch / Berlin

14. Bundesversammlung

Bundestagspräsident Lammert, CDU, betritt pünktlich mit Gefolge das von Menschen überfüllte Parlament und eröffnet die Bundesversammlung zur Wahl eines neuen Bundespräsidenten. Er macht dies, in dem er sich eng an die Abarbeitung der durch die Verfassung und die Geschäftsordnung vorgesehenen Regularien hält.

Auf der rechten Gästetribüne des Reichstags platziert, konstatiert Uli Hartmann, unser Journalist vor Ort, trocken: Der merkelsche Obrigkeitsstaat ist repräsentativ in vollem Umfang in Form der Bundesversammlung zusammengetreten. Mit Merkels Nominierung ihres parteiinternen Rivalen Christian Wulff, ist sie, ob Wulff nun die Wahl gewinnt, also hinweg gelobt wird, oder aber als ewiger Verlierer verliert, als Konkurrent um das Kanzleramt ausgeschaltet. Wie auch bei Helmut Kohl scheint für Angela Merkel nach 5 Jahren an der Macht in weiter Runde keine Konkurrenz in Sicht, allerdings wurde mehrmals inzwischen der Name der fotogen wirkenden Ursula von Leyen, also der niedersächsischen Albrecht Tochter, genannt.

Im Vorfeld der Präsidentenwahl wurde zu Gunsten des Kandidaten der SPD und der Grünen, Gauck, der merkelsche Obrigkeitsstaat unter dem Thema von Befehl und Gehorsam, Parteidisiziplin und Fraktionszwang diskutiert. Die CDU / FDP Behauptung, dass es sich um eine geheime Wahl handele, weil die Freiheit durch die Uneinsichtigkeit der Wahlkabine gewährleistet sei, unterschlägt die Kräfte des Fraktionszwangs, die die Wahlleute mit in diesen geheimen Freiheitsraum, den wahren Ort der Entscheidung, mitnehmen.

In seiner Eröffnungsrede kommt Lammert auf die staatsrechtliche Argumentation zu sprechen, die der Institution der Erbmonarchie zu gute hält, sie würde das höchste Staatsamt dem Parteienkampf entziehen. In der Bundesversammlung klatscht jemand Beifall und dem Reflex folgend, nun sei Klatschen dran, schließen sich einige dieser Beifallsbekundung an. Gelächter folgt, denn der Beifall wäre einer für die Erbmonarchie, was der Herr CDU Bundestagspräsident genüsslich kommentiert, worauf hin nun das hohe Haus mit erleichtertem Gesamtbeifall Klatscht und so insgeheim die historische Überwindung der Monarchie, die im Amt des Bundespräsidenten tradiert erscheint, abfeiert.

Lammert fährt fort, niemand stünde unter Denkmalschutz, nicht einmal das Staatsoberhaupt, doch Respekt sei dem zurück getretenen Bundespräsidenten zu zollen, im Grunde sei das ein Seitenhieb auf britische Verhältnisse, meint Hartmann, um so dann zu bemerken, dass Lammert derart die Latte der Kritik an seinem Parteifreund hoch zu drücken sucht.

Im weiten Kreis der Bundesversammlung werden Rufe laut. Es handelt sich um Widerspruch von drei Wahlmännern, wahrscheinlich aus den Reihen der NPD, die Änderungsanträge zur Geschäftsordnung und Verfahrensweise stellen und die Lammert begründend ablehnt. Unter anderem forderten diese Wahlmänner eine 30 minütige Vorstellungsrede der Kandidaten. Es hätte ihrem rechtsradikalen Kandidaten die Möglichkeit gegeben, sich eine halbe Stunde lang auszubreiten. Es ist eindrucksvoll zu sehen wie die Bundesversammlung geschlossen in einer Bewegung die Hände hebt, um die Änderungsanträge ablehnt. Es hat etwas militärisches, wohl insbesondere weil nur beim Militär so viele Menschen gleichzeitig und synchron handeln.

Im Pausengespräch in der Cafetería wandte sich die CDU MdL Karin Bertholds aus dem niedersächsischen Lüchow vehement dagegen, es handele sich um eine Art Fraktionszwang. Niemand frage sie danach, wie sie Wulff fände, hinter dem sie voll und ganz stünde.

Die SPD MdB Mast aus Pforzheim überrascht mit ihrer Freundlichkeit gegenüber ihrer MdL Kollegin aus dem anderen Lager. Anscheinend wollen beide den Journalisten Uli Hartmann beeindrucken und für sich einnehmen. Mast klagt über die höchste Arbeitslosigkeit in ganz Baden Württemberg, natürlich sei das ein Klagen auf aller höchstem Niveau und überhaupt nicht mit Ostdeutschland zu vergleichen.

Dass die Bertholdes so gänzlich über die in den Medien vertretene Diskussion über den Fraktionszwang hinweg geht, scheint eine Spiegelung der Diskussion im Zentrum des Wulffschen Lagers zu sein. McAllister, der ehemals jüngtse MdL würde bei Wulffs Abgang zum wohl jüngsten MP nachrücken. Er zählt gerade 38 Jahre. Er belegt die gesunde Verjüngungskur, der sich die CDU erfolgreich während Rot-Grün und im Gegensatz zu den anderen Parteien unterzog.

Nach der Auszählpause des ersten Wahlgangs ist Hartmann wieder auf der rechten Tribüne mit Sicht auf das linke Spektrum. Um 14 Uhr kommt Lammert zurück in den Plenarsaal, das Ergebnis des 1. Wahlganges zu verkünden. Seine Formulierung „das Ergebnis des ersten Wahlganges“, bevor er dann die Zahlen verlas, da Betonung auf „des ersten“, ließ schon ahnen, es könnte noch ein zweiter Wahlgang kommen, wobei Uli sich fragte, ob es Absicht sei, derart zu formulieren, um dann doch zu Überraschen.

Die Zahlen lauteten:

499 für Gauk von der SPD und den Grünen

126 für Joachimsen von der Linken

600 für Wulff von der CDU / FDP

3 für Reinicke von der NPD

13 Enthaltungen

1 ungültige Stimme

2 SPD Abgeordnete nicht da

= 1244

14:30 h: Die Wahlleute ziehen sich sofort auf die Fraktionsebene und in die Fraktionssäle zurück, um die weiteren Vorgehensweisen zu diskutieren. In der Wandelhalle begegnet Hartmann der Grünen, Rebecca Harms, seinem alten Schwarm aus hannöverschen Zeiten. Sie sitzt heute im EU Parlament. Wenn die Linken doch strategisch Denken würden, sagt sie, womit sie meint, wenn sie nun geschlossen für Gauck stimmten, könnte er die Wahl gewinnen. Damit rechnen die anderen Fraktionsstrategen natürlich auch, so dass sie ihre Leute entsprechend einstimmen werden.

Es stehen Rechenspiele an: Wenn die Linke geschlossen für Gauck stimmte und die anderen bei ihrem Votum blieben, wäre er gewählt. Da aber nach der Bubble-Burst-Theorie von Soros die anderen genauso denken, bleibt abzuwarten, wie diese sich strategisch neu entscheiden, wobei neu heißt, auch bei der alten Entscheidung zu bleiben.

Auf dem linksseitigen Turmbalkon Begegnung mit den Embajadores Magne, Bolivia, und Sevilla, Ecuador. Sie positionieren sich später vor dem Eingang der Linken. Magne reagierte ausweichend als ihm Hartmann von einer bolivianischen Indigena aus dem Amazonas Gebiet erzählt, die seinem Präsidenten Evo Morales Unterdrückung der dortigen Indigena durch die Hochland Indigena vorwirft.

15:15h: Nach den Fraktionsberatungen Aufruf zum 2. Wahlgang, wieder wird mit der langwierigen Verlesung der Namen begonnen. Bei 1242 Leuten alphabetisch geordnet ist ausrechenbar, wann man selber dran kommt, so dass in der Zwischenzeit gegessen und Kaffee getrunken und palavert werden kann. Insofern trifft Hartmann in der Warteschlange auf SPD Abgeordnete. Natürlich erinnert er das Gesicht eines dieser Herren hinter ihm sofort, eine Polit Prominenz, ein Ex-Minister, doch der Name will ihm par tout nicht einfallen, auch dem Presse Kollege vor ihm nicht. Eichel? Nein, aber eben der Nachfolger von Eichel, der Ex-Finanzminister. Hartmann ist erschrocken, wie kurzlebig Berühmtheit und Bekanntheit außerhalb der Berliner Expertenkreise angesichts der wohl altersbedingten Verfallserscheinungen von Gedächtnisleistungen sind. Auf dieses Altersargument kommt die sächsische MdL Windisch am Café Tisch zu sprechen, als sie sich für Wulff insbesondere deshalb ausspricht, weil er so jung sei und noch Kinder habe, also wisse, welche Probleme die Erziehung bereite und welche Sorgen Eltern haben, im Gegensatz eben zu den alten Herren. Ihre Art und Weise als auch ihre Denke kommt Hartmann ein wenig provinziell vor, so, als sage sie, was sie meine und zwar auf eine ganz einfache, hausfrauliche Art, die die guten Seiten ihrer Lieben zu loben versteht.

Im vorhergehenden Tischgespräch mit dem Fraktionsführer der Linken in NRW, Wolfgang Zimmermann, der leise und darum Hartmann über den Tisch ziehend sprach, konnte er sich dessen nicht sicher sein. Auf seine Frage hin, wie denn in der Fraktion beraten worden sei, erwiderte Zimmermann, die Linke würde auch im zweiten Wahlgang bei ihrer Kandidatin Joachimsen bleiben. Es wäre ein strategischer Coup, wenn die Linke entgegen dieser Aussage nun im zweiten Wahlgang geschlossen doch Gauck wählen würde, denn dann wäre er durch. Er wäre auch schon durch, hatten die SPDler in der Warteschlange moniert, wenn die Linke nicht so stur gewesen wäre, auf ihrer Kandidatin zu bestehen. Zwischen Würstchen und einer Gabel Kartoffelsalat erfährt Hartmann, dass die Sturen in Wahrheit die Betonköpfe in der SPD seien, die doch mal einen Parlamentär hätten rüber schicken können, um Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Ihr arbeitet mit der politischen Brachialgewalt, nämlich der der Mehrheitszahlen und Abstimmungsabläufe, behauptete Hartmann, wobei er NRW Zimmermann vorwerfen wollte, dass mit Feingriffen und Abstimmungen, mit mehr Konsensbildung und Absprachen mehr gewonnen wäre. Eigentlich wollte Hartmann der Linken und ihrem NRW Fraktionsführer anempfehlen, still zu halten und dem protzerischen Machtgehabe der SPD rein gar nichts entgegen zu setzen. Anstatt dessen erzählte er Zimmermann vom Institut Solidarische Moderne und dem Brückenschlag zu einer rot-grün-roten Allianz. Zimmermann erwiderte, natürlich gäbe es genügend Kontakte und Gespräche sowohl mit der SPD als auch den Grünen. Ah, also auch auf diesem Feld waren sie stark, nicht nur im Konfrontieren, folgerte Hartmann. Wenn er es recht verstand, so gab es einmal die auf Abgrenzung und Zerschlagung des jeweiligen anderen gerichtete Politikstrategie und zum anderen die auf Zusammenarbeit und kooperatives Win-Win Verhalten ausgerichtete Handlungsdimension. Welche der jeweiligen Optionen gerade den Ton bestimmte müsste, so folgerte Hartmann, seine Ursachen, Bedingungen und vor allem Zwecke, also Ziele haben.

Vielleicht ließ sich oben in der Fraktionsebene dazu mehr bei der FDP und der CDU herausbekommen. Dazu zog er sich das Jackett über, um einiger maßen standesgemäß zu wirken.

17h: Auf diese Weise, so könnte behauptet werden, sei die sichtbar gewordene Schwäche der CDU nach der NRW Schlappe und dem Rücktritt des vormaligen Bundespräsidenten wieder ausgebügelt, denn der Kandidat Wulff habe doch gewisse Vorteile: Kinder und ein relativ junges Alter und einen ebenso jungen Nachfolger in Niedersachsen.

Lammert kündet diesmal das Ergebnis des zweiten Wahlganges so an, dass auch schon klar ist, es wird nun mehr noch einen dritten und letzten Wahlgang erforderlich machen. Als er jedoch die Stimmergebnisse verliest, stellt sich Verwunderung ein. Hartmann rechnet kurz nach und kann sich nicht enthalten Buh! Buh! Und Ihh! zu schimpfen. Nicht, wie einige meinen könnten, weil dem Kandidaten Gauck seltsamer Weise 9 Stimmen weniger gegeben wurden, 490, und auch der Kandidatin der linken 3 Stimmen weniger, also 123, sondern weil seiner Rechnung nach, würden sich diese Wahlverhältnisse nun im letzten Wahlgang wiederholen, die drei Stimmen der NPD den Ausschlag zur Wahl des Bundespräsidenten ergäben. Buh! Buh! Ihh!

Aber wo sind die Stimmenthaltungen geblieben? Ein seltsames Ergebnis. Wulff bekam 15 Stimmen mehr, es gab im ersten Wahlgang aber nur 13 Enthaltungen und Gauck und Joachimsen bekamen 12 Stimmen weniger. Wo sind die geblieben? Das geht doch gar nicht! Schließlich ist das eine Bewegung von 27 Stimmen zu Gunsten von Wulff.

Es waren 7 Enthaltungen sagen die Kollegen. Hartmann hatte es von Lammert jedenfalls nicht gehört. Insofern war sein Buh! Buh! Ihh! zurück zu nehmen, denn wenn sich nun mehr auch noch diese 7 Wahlleute entschieden, so ergab das doch ein seiner Auffassung nach tragfähiges Ergebnis ohne die Rechtsradikalen, das war ihm wichtig, ganz wichtig, der Rest hingegen, nun ja, einer von beiden würde es werden. Vielleicht hatte Gauck ja noch etwas in die Waagschale zu werfen. Er stand ziemlich verloren in der Mitte des Plenarsaals vor dem Rednerpult, traurig und allein, dann war schon Steinmeier bei ihm, er hatte es gesehen und Trittin und … Uli kannte diese Leute nicht, unwahrscheinlich jedoch, dass in diesem sich nun mehr und mehr zuspitzenden Polarisierungsprozess jemand öffentlich ausscheren könnte. Ja, jetzt tat ihm Gauck ein wenig Leid. Der Pastor aus dem Osten, der Stasi Akten Verwalter, dieser das Volk begeisternde Mann würde von dem … Hartmann wagte es kaum mehr angesichts dessen, dass er Wulff kommen sah, zu äußern … angesichts dieses Langweilers, brachte er schließlich hervor ... verdrängt werden. Nun ja, so war das dann.

Oben, auf der Fraktionsebene Leute, Leute, Leute, wobei, wie das so üblich ist, die hübschesten und am modischsten gekleideten Frauen natürlich auf der Regierungsseite anzutreffen waren. Im Gedränge tauchte er zuweilen in die Welt der Düfte ein: Neben frischem Wurst- und Käsebrötchen- und Kaffee Duft und … war da nicht auch ein leichtes Parfüm in der Berliner Reichstagsluft wahrzunehmen? Es war eine Duftspur, die ihm verdächtig nach Toilette roch. An diesem heißen Sommertag unter all den schwitzenden Leuten, der so einige der menschlichen Gerüche freizusetzen schien, erinnerte ihn dieser Duft an den alter Menschen, wobei es ihm schwer fiel, einschätzen zu können, ob nun vor dem Fraktionssaal der CDU oder aber vor dem der SPD die gediegenen Honoratioren die gestandene Mehrzahl bildeten. Ohne Zweifel war das ein mit Scham besetztes Thema, ging es dabei doch um Prostata Leiden und Inkontinenzen, die nicht nur bei den alten Herren anzutreffen war. Es vermittelte zugleich aber eine Ahnung davon, welche Dufteindrücke während der höfischen Gesellschaften in absolutistischen Zeiten, in denen es bekanntlich an gegebenen Entleerungsörtlichkeiten mit Wasserspülung fehlte, an der Tagesordnung waren.

Hartmann streifte umher, ziellos, von der Cafetería bis hinauf in die Fraktionsebene auf der Suche nach einem bedeutsamen Gespräch. Ulrich Sommer, der DGB Vorsitzende kam von einem Fernseh Talk und ließ sich auf ein paar Worte mit ihm ein, wobei er Hartmanns Namen auf der rot violetten Ausweiskarte an seiner Hemdbrusttasche auszumachen suchte. Tatsächlich waren die Leute in weiße, in gelbe, violette und grüne Ausweiskarten Menschen unterteilt, wobei die weißen die Wahlleute, die gelben die Gäste, die violetten die Presse und die grünen die Bediensteten abgaben. Natürlich war damit eine sichtbare Unterteilung und Hierarchie unter den Anwesenden gegeben und somit die Klassengesellschaft reinkarniert. Seine Überlegung spielte auf die Linke an, an der es mit ihrem Wahlverhalten gelegen hatte, dass nicht schon im ersten Wahlgang Gauck gewählt wurde. Es ging mithin um die Schuldfrage. Nachdem der Unionskandidat im ersten Wahlgang durchgefallen war, galt es nun mehr, den eignen Flurschaden zu begrenzen. Wieso haben sie dich denn nicht rübergeschickt zur Linken?, fragte Hartmann den DGB Vorsitzenden, der als SPD'ler bekannt war. Ach, dazu hat mich keiner aufgefordert, aber er wäre wohl gegangen, meinte er. Eben, darum ginge es doch, dass dich keiner dazu aufforderte, meinte Hartmann ehe sich Sommer Richtung CDU Fraktion weiter bewegte.

Die Stimmung schien ermüdet, erschlafft, der Dampf war raus, der Hunger knurrte in den Bäuchen, ein zäher Brei, in dem sich anscheinend nichts mehr zu tun schien. Die Linie der Entwicklungstendenz der ersten beiden Wahlgänge deutete auf Wulff und den Jungstar McAllister in Niedersachsen.

Der Grünen MdB Wolfgang erkannte Hartmann noch von der ISM Mitgliederversammlung, aber schon war er an ihm vorbei zu einem Grüppchen Kollegen. Dafür erkannte mit einem freundlichen Nicken ein anderer, alter Bekannter, Rolf Mützenich, SPD MdB aus NRW Ulrich Hartmann, der die Chance ins Gespräch zu kommen natürlich sofort ergriff. Er sah nicht, dass Mützenich in einem Gesprächskreis um den abgetretenen Müntefering stand, er hätte sonst wohl gleich das Weite gesucht. Dass Mützenich um Münte herum stand enttäuschte ihn. Er hatte von dem ehemaligen Falken Vorsitzenden anderes erhofft, war für Hartmann Franz Müntefering doch der Inbegriff des Oberverräters und bedeutendster Hemmschuh bezüglich einer Mitte-Links Allianz.

19:30 h: Lammert ruft zum dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit auf und eröffnet gleichzeitig die Buffets auf der Fraktionsebene. Die Fernsehbilder auf die Kandidaten zeigen einen abgeschlagenen Gauck und einen strotzenden Wulff mit einer frohlockenden Kanzlerin an seiner Seite. Super! So gefiel die CDU, so kam sie voll überzeugend rüber. Siegesgewiss, dynamisch, jugendlich frisch, voller Elan und mal wieder das Zerwürfnis auf der linken Seite abfeiernd.

Offensichtlich, weil Rolf da im Kreis um Münte stand, konnte er auch nicht reden, zumindest schwieg er sich aus. Hartmann hatte dementsprechend das Gefühl, er mache nur dumme Sprüche, ließ ihn Rolf doch einfach nur auflaufen, als er auch ihm vorhielt, dass sie einen hätten rüber schicken sollen zur Linken und dass es mit Wulff den jüngsten MP Nachfolger in Niedersachsen gäbe. Auch Rolf war nicht mehr der Jüngste. Hartmann hatte ihn noch frisch und rotwangig vor Gesundheit strotzend in Erinnerung, jetzt sah er einen abgehärmten, abgekämpften Recken in ausgewetztem Maßanzug, der eigentlich schon auf Frührente hätte gehen können, hätte ihm diese Münte neben ihm nicht vermieselt.

Ihn würde es nicht wundern, wenn nun auch zum dritten Wahlgang die Linke sich entschieden haben würde nicht für Gauck zu stimmen, sondern sich zu enthalten. Es wäre dann wieder Auslegungssache der Medienmehrheit zu bestimmen, ob es an der Unbeweglichkeit der Stalin-Kommunisten in der Linken oder aber an den Betonköpfen der Kanalarbeiter bei der SPD gelegen habe. Das Frohlocken der CDU Riege schien bislang gerechtfertigt.

Da oben das Buffet eröffnet war, ging Hartmann hinauf, sich etwas zu trinken zu holen. In einem der Seitengänge stand er plötzlich neben McAllister, schon in Siegesstimmung demnächst den niedersächsischen MP geben zu dürfen. Natürlich reagierte Hartmann überrascht wie er war, nicht, sonst hätte er dem kommenden Mann die Hand schütteln können und fragen, was er vorhabe in Niedersachsen. Doch so, wie er den hoch gewachsenen Mann neben sich sah, verzichtete er lieber, er wollte nicht von oben herab arrogant abgetan werden.

21:05 h: dpa meldet über den Ticker und das lange bevor Lammert das offizielle Auszählungsergebnis bekannt gegeben hat, dass gemäß Informationen aus Fraktionskreisen der CDU / FDP Wulff mit 625 Stimme gewählt worden sei. CDU Lammert, der Bundestagspräsident, hat also wahrscheinlich vorab Informationen an seine Fraktion durchgegeben.

21:10 h Wie kann eine solche Meldung sonst anders an die dpa raus gehen bzw. von der dpa raus gegeben werden?, fragt sich Hartmann zurück im Plenarsaal, in dem Lammert mit einem zackig militärischen: Die Sitzung ist eröffnet – setzen!, sich an die Verkündigung des Ergebnisses macht:

1242 Stimmen

2 ungültig

121 Enthaltungen, von der Linken kommt Klatschen und Beifallrufe. Wie schwach denkt Hartmann, dass sie nicht in der Lage waren, einzulenken. Pfui Rufe im Plenum.

494 Stimmen für Gauck, Beifall der SPD übergehend in Standing Ovations. Auch die Dame im blauen Jackett mit dem blonden Haar in der ersten Reihe, Hannelore Kraft, die werdende MP in NRW, erhebt sich.

625 auf Wulff, kräftiger Jubel bricht bei der CDU los, Beifall, der in Standing Ovations übergeht.

Offensichtlich hat einer der NPD Wahlleute seine Stimme abgegeben, für wen ist nicht nachvollziehbar.

Das Schisma im Linkslager hat wieder einmal einen Höhepunkt zu verzeichnen.

Rede des neuen Bundespräsidenten Wulff:

Spöttisches Lachen in den hinteren Reihen, als er sich für das entgegen gebrachte Vertrauen bedankt. Hinweis auf die Freiheit der Wahl, die doch durch die geheime Wahl gegeben war. Das ist jetzt die offizielle Sprachreglung. In seiner Aufzählung der Parteien lässt er die NPD unberücksichtigt.

Parallelgesellschaften, so sagt er, verhindern wir am besten, wenn wir aufeinander zugehen. Hartmann sträubt sich. Zum einen möchte er auf die NPD'ler genauso wenig wie Wulff zugehen. Zum anderen fragt er sich, wer sich denn immer abgrenzt, sei es hinter Gartenzäunen oder hinter unbezahlbaren Eintrittsgeldern. Und ist es denn nicht durchaus angebracht sich manchmal abzugrenzen gegenüber der Übermacht, gegenüber Unterdrückung und Ausbeutung und den so lieben Helfern, die mit ihrer Hilfe nur zeigen wollen, wie toll und gut sie sind?

Ehe Hartmann hinauf geht zum Bundespräsidenten Empfang, hängt er noch ein wenig der bitteren Pfui Enttäuschung bei der SPD nach. Er neigt dazu, der größeren Partei zuzumuten auf die kleinere Partei zuzugehen. Die ekelhaften Auseinandersetzungen zwischen SPD und der Linken scheinen alles andere als vorüber. Auch hier reiben sich siegesgewiss die Neo-Liberalen die Hände, scheint das Scheitern in NRW doch vorprogrammiert.

Während des Essens und nach dem der ganze Wahlzauber vorbei ist, kommt Hartmann in den Sinn, als wäre es der letzte Trumpf in diesem Spiel, dass den Ausführungen von Kurt Beck, MP Rheinland Pfalz, zu den Motiven des Rücktritts von Köhler, es habe sich da um zu tiefst persönliche und psychologische Gründe gehandelt, die schlichte Überlegung des Pfennigfuchsers Köhlers hinzuzufügen sei, dass wenn er zu diesem Zeitpunkt bei dem die Bundesversammlungsmehrheit für die CDU / FDP noch vorhanden ist zurück tritt, dem neu gewählten Bundespräsidenten ein glattes Jahr Amtszeit gewonnen wäre.

Beim Verlassen des Reichstags klärt sich der Skandal um die Vorab Meldung des Ergebnisses dadurch auf, dass ein dpa Kollege erzählt, das Auszählungskomitee habe aus 40 Abgeordneten bestanden und die hätten natürlich ihr Ergebnis sofort an ihre Fraktionen weiter gegeben.


1. Juli 2010
Donnerstag / Berlin

Nachlese zur Bundespräsidentenwahl

Hartmann hatte mit gedrückterer Stimmung den Reichstag spät am Abend gegen halb elf verlassen. Lag es daran, dass er beim Singen der Nationalhymne nicht so recht einstimmen konnte in das wohlige Gefühl des Tonklangs aus 1244 Kehlen, der da stehend und teils mit einiger Innigkeit mit der Hand auf dem Herzen sang:

Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand:
|: Blüh im Glanze dieses Glückes,
   blühe, deutsches Vaterland! :|

Dabei war, um so gleich mit dem Anfang zu beginnen, nirgends die Uneinigkeit so deutlich zum Vorschein gekommen, wie bei dieser Vollversammlung der repräsentativen Politikklasse des volkreichsten EU Landes. Eigentlich, so gestand es sich Hartmann ein, rührte seine Mißstimmung aus dem Misserfolg des linken Spektrums mit dem Kandidaten Gauck. Oder war es vice versa eher der letztendliche Erfolg der Regierungskoalition von CDU / FDP, der ihn neidisch und missgünstig machte, wobei ihm Bilder des frohlockenden, siegesgewissen Grinsens der Kanzlerin und ihres Kandidaten Wulff hoch kamen? Offensichtlich war er in seiner Betrachtung einfach zu sehr auf das Debakel um den Kandidaten Gauck bezogen. Hätten die Linken im ersten Wahlgang sozusagen in einem Coup geschlossen nicht ihre Kandidatin Joachimsen gewählt, sondern Gauck, so wäre der nun Bundespräsident. Klar, dass so etwas nicht machbar war. Die Linke hätte auf ihre Kandidatin im letzten Moment verzichten müssen und … wahrscheinlich hätten sich die Abtrünnigen der Merkelmehrheit ihre Wahlentscheidung noch einmal überlegt. Nicht auf dem Schisma zwischen SPD und Linken, die Hartmann im Grunde so betrübte, lag denn dann auch die Betonung der internationalen Medienberichterstattung, sondern auf jenen Abtrünnigen. Sie galten als deutliches Zeichen der Unzufriedenheit mit Merkel und der Regierungskoalition.

El País berichtete sogar, der SPD Fraktionsvorsitzende Frank Walter Steinmeier sei nach dem zweiten Wahlgang hinüber gegangen zur Fraktion der Linken, um sie um Zusammenarbeit zu bitten. Hartmann war dort nach dem ersten Wahlgang mit den beiden Embajadores aus Bolivien und Ecuador aufgekreuzt. Vielleicht hätte er einfach mit ihnen dort längere Zeit stehen bleiben sollen, anstatt aus gewissen Berührungsängsten heraus das Weite zu suchen, sagte sich Hartmann. Berührungsängste? Selbstverständlich ist dies nicht wörtlich zu nehmen, sondern meint die unmittelbare Sphäre des Beieinander Stehens, des Zuhörens, auch des Redens, insbesondere wenn es um TV mediale Politprominenzen wie Gisy, Lafontaine, der gleich mit Bodyguard, oder Kipping und Wagenknecht oder bei den Grünen um Trittin geht. Mit den beiden Embajadores hätte er sich eine gewisse Bekanntheit verschaffen können, denn ohne weiteres, sprich ohne das freundliche Lächeln der Angenommenheit, war es „unmöglich“ in der Nähe solcher Leute zuhörend, gar mitredend stehen zu bleiben.

Eine andere Frage war es, ob Steinmeiers angeblicher Verhandlungsversuch eine Erfindung von El País war und ob es ein Alleingang von Frank war oder aber, ob und mit wem er sich abgesprochen hatte, zumindest hatte Hartmann davon nichts weiter gehört.

Auch im Spiegel fand sich keine Erwähnung von Steinmeiers Verhandlungsversuch, dafür ein Artikel über die gegenseitigen Vorwürfe. Das Zerwürfnis von SPD und Linken erweist sich, da hoch emotional besetzt, als ausgiebig ausschlachtbares Medienthema.

Auf der ersten Seite der New York Times fand sich überhaupt keine Erwähnung der deutschen Präsidentenwahl. Lediglich ein kleiner Artikel mit einem betrübten Foto von Merkel und Wulff wies anlässlich des dreimaligen Urnengangs auf die Krise der Regierungskoalition hin sowie darauf, dass Wulff ziemlich leise, also kaum verständlich, gesprochen habe. Hartmann erinnerte das an seine eignen Schwierigkeit gelegentlich Lautstärke zu entwickeln. Auch der Klang von Wulffs Stimme, so von innen heraus, als ob sie sich lange Zeit nicht frei gesprochen habe und ungeheure Widerstände zu überwinden hätte, kam ihm bekannt vor. Insbesondere aber erinnerte Hartmann sich an Bundesverwaltungsrichter Birlets Aufforderung, er solle doch lauter ins Plenum einer Erwerbslosenversammlung, die vor Tagen stattfand, reden. Natürlich hatte sich Hartmann sofort brav und artig darum bemüht auch ja laut und verständlich zu werden, erst hinterher schimpfte er auf Birlet, dann solle er sich doch ein Hörgerät zulegen, wenn er nicht mehr gut hören könne, Geld hätte er ja wohl genug als Bundesverwaltungsrichter.

Spiegel online brachte eine ganze Serie von Berichten, so dass sich ein vielgestaltiges Bild aus verschiedensten Richtungen ergabt, wobei der Tenor jedoch auch auf das Zerwürfnis im Regierungslager verwies.





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