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Das Paar im Mittelpunkt
12. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen, Hannover, 15. - 18. Nov. 2012, DG

Anreise und Paukenschlag

Zugabteil, eine achtlos liegen gelassene Zeitung, die HAZ, das hannöversche Stadtblatt des Madsack Konzerns, der unter maßgeblichem Einfluss der SPD steht. Unserer Welten online Journalistin, Sabrina, springt auf der Frontseite eine Kurzmeldung in die Augen. Daniel Cohn-Bendit, der EU Fraktionsvorsitzende der Grünen, plädiere, im Falle entsprechender Mehrheitsverhältnisse auch für eine Grün-Schwarze Koalition offen zu sein. Die ausschließliche Festlegung auf eine Grün-Rote Koalition führe unweigerlich, siehe die Berliner Landtagswahl, zu einer Großen Koalition.Das war eine bestechende Logik, die sich aus der Absage einer Rot-Grünen Regierung durch den Berliner Oberbürgermeister Wowereit ergab.








Katrin&Juergen
Die Doppelspitze der Grünen:
Katrin Göring-Eckardt & Jürgen Trittin


Sabrina, die sich bisher dem Lager der SPD zugeneigt hatte, fand so etwas unmöglich, das war Verrat an den progressiv alternativen Gesellschaftskräften. Für sie hätten die SPD, die Grünen und die Linken schon längst mit ihrer Mehrheit regieren sollen. Sie versuchte die Meldung online zu googeln, siehe da, der Madsack Konzern brachte sie nicht online, er hatte sie aus einem Spiegel-Interview abgeschrieben.

Klar wurde, Niedersachsen befand sich im Wahlkampf. Der Spitzenkandidat der SPD, Stephan Weil, berief publikumswirksam Doris Schröder-Köpf, die Gattin des hannöverschen Ex-Kanzlers Schröder, als Integrationsbeauftragte in sein Wahlkampfteam. Sabrina spottete: Die soll jetzt wohl so etwas wie Hillary Clinton werden.

Die 12. Vollversammlung und Jürgens Rede

Eigentlich genau wie bei der SPD, dachte Sabrina. Parteitage sehen anscheinend überall gleich aus: Im Eingangsbereich Tische zum Einchecken der Delegierten, für Gäste und Presse, Stände von Lobbyisten, die mit heißen Waffeln, Kaffee und mit Süßigkeiten lockten. Bei der SPD fanden sich spendablere Sponsoren, die gleich für ein umfangreiches Buffet und die Getränke sorgten. In der Halle Tischreihen, im Hintergrund Türme für Fernseh-Kameras, vorne eine Bühne mit zwei Tischreihen links und rechts, in der Mitte der Ort, um den es geht, das Rednerpult. Das war der zentrale Ort in demokratischen Systemen. Grußworte, unter anderem vom SPD Kandidaten Weil, Abarbeitung von Obligationen aus dem Versammlungsrecht: Tagesordnung, Beschlussfähigkeit, Kommissionsbestätigungen, es dauerte bis es zur Vorstellung der beiden Spitzenkandidaten kam. Ermüdung.


Workshops

Sabrina hatte es schon bei der Genfer UNO Konferenz gegen Apartheid und Rassismus, erlebt, dass neben der Konferenz der Diplomaten Workshops zu Spezialthemen abgehalten wurden. Das bereicherte solche Großveranstaltungen nicht nur, sondern ließ die Teilnehmer mehr in Kontakt zueinander kommen. Man konnte sich beteiligen, mit diskutieren, sich einbringen. Man war nicht nur auf die Rolle des passiven Konsumenten und Zuhörers beschränkt, der vielleicht auch mal nach vorne ans Rednerpult treten durfte, um dort die große Erfahrung des Redens zu machen.

Sabrina entschied sich, in den Workshop von Reinhard Bütikofer, dem EU-Parlamentarier und neuerdings Vorsitzenden der EU-Grünen, zu gehen. Es ging um Südeuropa, um einen Neuanfang dieser von der Finanzkrise gebeutelten Länder. Reinhard brachte den einzigen griechischen MeP der Grünen mit, Nikos Chrysogelos. Der schilderte, dass die Grünen in Griechenland eine Kleinstpartei waren, dass das Land polarisiert in Rechts- und Linksradikalismus zerfiel, dass die ökologische Erneuerung der Wirtschaft vor allem in der Schifffahrt, in der Landwirtschaft und im Tourismus Chancen habe, zum Beispiel würden die Lebensmittel der Tourismushotels nicht aus lokalem Anbau kommen, sondern sie würden importiert. Sabrina meldete sich und bat, Niko möge ihr weitere, lukrative Investitionsmöglichkeiten in Griechenland aufzeigen, denn es ginge doch darum die 200 Milliarden Fluchtgelder der Griechen ins Land zurück zu holen. Niko antwortete, es gebe einige Kooperativen und Genossenschaften, Sabrina bezweifelte, dass diese eine vernünftige Rendite erwirtschafteten. Das war das typische Dilemma von rechts-links, von Profit versus sozialen Ansprüchen, diesmal auf griechisch verzerrt in eine unüberbrückbare Differenz.



Die Kandidatenreden

Ging es darum, fragte sich Sabrina, wie sie Katrin Göring-Eckardt, die weibliche Spitzenkandidatin der Grünen fand? Hübsch, nett, zierlich, bestimmt eine kleinkrämerische Zicke, wenn es galt, mit ihr etwas auszukakeln und vor allem fleißig, fleißig, denn sie kam ja aus dem Osten. Ohne Frage, Katrin kam an, ein runder, sympathischer Tonfall. Dass sie in den Medien als Christin hoch gejubelt wurde, war ihren Worten nicht explizit zu entnehmen. Zwar verrieten einige Redewendungen und Begriffe, dass sie sich Gedanken über Kinder, Gesellschaft, Religion und Wirtschaft in gewissen, zum Beispiel Kirchentags- Kreisen gemacht haben mochte, aber ein missionarischer Impetus war bei ihr nicht heraus zu hören.

Ihr folgte die Kandidatenrede Jürgen Trittins. Der Tonfall der gesetzten Sprache, die sich langsam steigerte, jeder Satz klar und deutlich, der Zuhörer wurde mitgenommen, in Zustimmung und Begeisterung versetzt. Sabrina erinnerte der Tonfall, der Klang, die Rhetorik, an die Reden des Alt-Kanzlers Schröder. Lag es an den Lautsprechern, an der Technik, die unweigerlich zu diesem Stimmklang führte oder war es auch ein Stück Übung und Einstudierung der Redeweise des Alt-Kanzlers, die eben nicht nur Erinnerungen weckte, sondern anknüpfend an die erste rot-grüne Koalition, in der Jürgen maßgeblich als Grüner Umweltminister beteiligt war? Jürgen verbreitet die Stimmung des Neuanfangs und des Aufbruchs überzeugend. Aus dem Munde eines Originals vermittelt sich: We can do it! Wir schaffen es! Sabrina war begeistert. Immer mehr legte sie ihre kritische Distanziertheit ab, was sie ärgerte, denn als Welten online Journalistin hatte sie kühl, distanziert und objektiv zu sein. Sie hörte da jemanden professionell von Herzen sprechen. Ja, genau das war es, was gebraucht wurde, da war Auseinandersetzung, da war Witz und Humor, da waren Argumente, die überzeugten und das Gefühl von Gemeinsamkeit, von: Wir verändern die Welt! Von : Yes, we can! Mit Trittin würde noch mehr möglich sein als nur ein Finanzminister. Der neue, grüne OBM von Stuttgart, Fritz Kuhn, stellte in seiner anschließenden Rede der Vollversammlung dieses Amt als Zielvorgabe Trittins in den Raum. Die Bildung des Schattenkabinetts war im vollen Gange. Wer erhob Anspruch auf den Posten des Außenministers und des Vize-Kanzlers? Es blieb abzuwarten, wie sich die nächsten Tage und Wochen entwickelten.

Nach der Rede standing ovations, das war üblich auf Parteitagen, selbst wenn der einzelne Delegierte nicht ganz der Meinung des Kandidaten war. Es galt Solidarität zu üben, es war sichtbarer Ausdruck der Parteidisziplin, die bei Abstimmungen meist über die eigenverantwortliche Gewissensentscheidung gestellt wurde. Doch auch Sabrina klatschte. Jürgens Rede hatte ihr gefallen. Als er dann mit Katrin auf der Bühne stand, war das Bild perfekt: Ein politisches Liebespaar, sie stand für den christlichen Glauben, für Kinder und Soziales, und er für die materialistischen Fakten, für die Finanzen, für die Anti-AKW-Bewegung. Das lebendige, kreative Liebespaar als Ausgangspunkt von Familie und Gesellschaft im Mittelpunkt der Grünen. Die Partei und ihre diversen Experten arbeiteten ihm zu, denn das Liebes-Ehe-Eltern-Beziehungspaar war es, das die Widersprüche nicht nur von Glauben und Wirklichkeit, von Wunsch und Möglichem überbrückte, sondern erst schuf, weil sich in dieser Quelle der Gegensätze von männlichem und weiblichen, von Ying und Yang, die Lösungen am nächsten lagen.

Tatsächlich war den Grünen mit ihrem Modus der weiblich-männlichen Doppelspitze ein besonderer Wurf gelungen. Auch andere Parteiämter wurden gleichberechtigt nebeneinander mit einer Frau und einem Mann besetzt. Es schien zu klappen, denn Sabrina waren zum Beispiel aus dem Parteivorsitz von Claudia Roth und Czem Özdemir keine Querelen zu Ohren gekommen. Wenn die Alternativen in der Gründungszeit mit dem Rotationsprinzip angefangen hatten, dann brachten sie nun erneut eine Innovation in die politischen Strukturen ein.

Auf die Frage, wie es denn gehandhabt würde, wenn die Anforderungen einer Amstübernahme es erforderlich machten, dass nur eine Person den Posten bekleiden könne, sagten ihr zwei grüne Delegierte, dass, wenn es ein Mann wäre, dieser per Wahl die Zustimmung der Frauen bräuchte. Umgekehrt galt das nicht, denn in Spitzenfunktionen gab es immer noch mehr Männer als Frauen bei den Grünen.

Grün-Rote Knackpunkte

Die Presse Lounge mit eigener Bar und freiem Catering, also Kaffee, Wasser und gelegentlich belegte Brötchen, war kein Intershop, in dem sich die hohen Parteifunktionäre tummeln durften, um ihre Devisen auszugeben. Dennoch sorgten mondäne Ledersessel für Club Atmosphäre und gediegenere Gespräche. Sabrina und Uli, die Welten online Chefredakteur Urs Stoffolsky zum Bundesparteitag geschickt hatte, tauschten gerade ihre letzten Eindrücke aus, als Ulis Handy in der Jackett Tasche vibrierte. Es war Jens, ein alter Freund aus hannöverschen Tagen. Dass Jens ihn ausgerechnet jetzt anrief, wo er gerade in Hannover auf dem Bundesparteitag der Grünen angekommen war und wo ihn Jens ansonsten nie anrief, das fand Uli mehr las zufällig, um nicht zu sagen, er fand es seltsam. Ein so zufälliger Zufall weckte ihm psychotische Überwachungsfantasien. Vor Tagen hatte die Telefongesellschaft O2 gemeldet, sie wolle die Bewegungsdaten ihrer Kundschaft anonymisieren und zu Werbezwecken verkaufen. Mittels Cookies überwachte man auch seinen Laptop, denn er erhielt jeweils nach Standort lokale Werbe Pop-ups. Es war also ein Leichtes Jens, der ein Politischer war, über sein Kommen zu informieren. Zu Stasi Zeiten wäre es denkbar gewesen, dass man seinen alten Freund direkt auf ihn angesetzt hätte, um ihn, den Journalisten, zu beeinflussen. Nur, das DDR Regime existierte nicht mehr. Außerdem war Jens kein Stasi Mann, sondern ein SPD´ler. Dennoch konnte es ein Interesse geben, Jens darauf zu bringen, ihn anzurufen. Mit unterschwelliger Beeinflussung über dessen IPhone und Web-Aktivitäten sollte das doch machbar sein. Die individuelle Fernsteuerung von Menschen und deren Verhalten war nicht nur eine Sache der Werbung, sondern auch der Geheimdienste und der politischen Auseinandersetzungen. Es war davon auszugehen, dass der Verfassungsschutz und die Geheimdienste gezielt eingesetzt wurden, um insbesondere solche Mitglieder der Politelite wie sie selbst zu manipulieren. Oder wozu sonst hatte sich der BND in Berlin eine schon Stadt zu nennende verbotene Stadt in der Stadt erbaut.

Uli und Jens kannten sich noch aus der Prä-Schröder Zeit. Jens selber hatte in Studententagen mit Gerd Doppelkopf gespielt. Den Weil, den jetzigen SPD Spitzenkandidaten, kannte er aus der Nachbarschaft und selbst von Oertzen, eine hannöversche SPD Größe, zeitweilig im Parteipräsidium der SPD, hatte zu seinen Bekannten gehört. Im Grunde war Jens Ulis politischer Mentor bis sich vor 15 Jahren ihre Wege trennten. Eigentlich unverständlicher Weise, denn sie waren dicke Freunde. Uli vermutete, es lag an dem damaligen Freund von Jens, denn Jens war knalle schwul, was in ihrer Freundschaft manchmal zu einigen Irritationen geführt hatte, denn Uli blieb schlicht ein stinknormaler Hetero.

Sie verabredeten sich im Spandau, einer Studentenkneipe in der Nordstadt. Den Parteitags Trubel hatte er satt, außerdem würde Sabrina die Stellung halten. Ein Gespräch mit Jens würde Hintergrund Infos bringen, auf die er unter all den Grünen bestimmt nicht käme. Vor drei Jahren war er aus der SPD ausgetreten. Der Hick-Hack mit der Linken und die immer weiter nach rechts abdriftenden Politiken der Kanalarbeiterfraktion hatten ihn verdrossen. Wahrscheinlich sah Jens in ihm den Abtrünnigen, den Verräter und darüber hinaus mochte er in ihm den dummen Schwätzer sehen, der ein wenig rum blubberte und dann auch schon aus dem Atem gekommen aufgab und schwieg, weil er nichts mehr zu sagen wusste. Mochte er doch, sollte er doch, dachte sich Uli, nach ihrem Treffen auf dem Weg ins Hotel Momo. Was Jens in ihrem Gespräch getroffen hatte, war seine Erwiderung als es um die Komplementärrolle des kleineren Koalitionspartners ging. Anno Schröder hatten die Grünen diesen gegeben und zu Zwecken der Machtdemonstration wurden sie Catch as catch can immer wieder unter Stöhnen und Ächzen zu Boden geworfen. Die Vorstellung, die SPD könnte, wie schon in Baden-Württemberg, in diese Rolle kommen und dann ohne Scheu in die Große Koalition abwandern, zeigte Uli, dass Cohn-Bendit Recht hatte. Die Rolle des Minderheitskoalitionärs schmeckte den Sozialdemokraten gar nicht. Das machte die Cohn-Bendit Äußerung so bedeutsam. Von daher wehte denn auch der Wind in ihrem Gespräch. Jens, der SPD´ler, hielt ihn klein, nahm ihm den Wind aus den Segeln und suchte ihn reden zu lassen, so dass er sich selber erst altklug und dann dumm vorkam.

Der zweite, markante Punkt ihres Gespräches bestand in der Differenz der Grünen zu den Sozialdemokraten in Bezug auf die Auto- bzw. Verkehrspolitik, wobei es insbesondere um die Hardliner Position der Berliner und um Renate Künast ging. Uli versicherte Jens, dass er zwar nicht ganz diese Hardliner Position vertrete, aber er stellte sich vorsichtig auf die Seite der Anti-Auto Fraktion. Uli war klar, dass die Sozialdemokraten damit in großen Teilen der autoabhängigen Gesellschaft punkteten. Im Grunde war es eine Radikalposition der Grünen, so wie es die Ausstiegsforderungen der Anti-Atomkraft Bewegung einmal gewesen waren. Wollten die Grünen mit ihrer Anti-Auto-Politik daran wirklich anknüpfen? An der Auto Industrie hing zu viel, das war schließlich nicht nur die Liebe zum Autofahren, das waren Arbeitsplätze.

Auf geht’s! - Und was ist mit dem bedingungslosen Grundeinkommen?

Keinen Bock!, sagte Stefan, der Langzeit Arbeitslose, als er Renate Künast's Wahlkampf Aufruf im Radio hörte. Ein paar Minuten vorher hatten die Delegierten des 12. Bundesparteitages der Grünen den Änderungsantrag von Sven Lehmann abgelehnt. Es ging um die Frage, ob die Grünen nur zeitweise die Sanktionen des Arbeitsamtes aussetzen lassen oder aber ganz abschaffen wollten. Der Bundesvorstand der Grünen, der BuVo, hatte in seinem sozialpolitischen Antrag ein Sanktionsmoratorium gefordert. Im Antrag des BuVos stand das in Zeile 483. Sabrina brauchte, bis sie sich in das Gewirr von Anträgen und Gegenanträgen eingefuchst hatte. Für einen unbedarften Zuhörer wie sie klang das Aufrufen von Kürzeln und Zahlen, über die dann per Handzeichen abgestimmt wurde, wie die von Menschen betriebene Feinmechanik einer Uhr bei der die Zahnräder ineinander griffen, um den Zeiger über das Ziffernblatt zu drehen. Dabei befand man sich doch im digitalen Zeitalter. Sie verwarf die folgenden bildhaften Assoziationen sofort, denn es ging ihr nicht darum, die Stimmkarten durch online Abstimmungen zu ersetzen. Man verwendete dazu spezielle, wie TV Zapper funktionierende TeleVoter. Die würden nichts an den Kürzeln und Zeilenzahlen ändern, die vom Podium hinunter hin zu den an Tischreihen plazierten Delegierten gerufen wurden, schimpfte sie. Das war doch keine Diskussion und dann Abstimmung und Mehrheitsfindung. Ihr war klar, das sie damit eine grundsätzliche Demokratiekritik vom Stapel brach. Die Idee der demokratischen Mehrheitsfindung war Quatsch, ja, die Mehrheitsentscheidung als solche. Erstens, wer sagte, dass die Mehrheit das richtige und beste bestimmte und zweitens, dass die Mehrheit in der einen Gruppe bzw. Partei unweigerlich zu einer weiteren Mehrheit in einer anderen und nächsten Versammlung führte. Worauf es ankam war, dass die Leute ins Reden miteinander kamen, dass sie miteinander diskutierten und genügend Möglichkeiten da waren, sich kennenzulernen, denn das war doch das aller wichtigste in einem Haufen von Leuten, in denen sich die meisten samt ihrer Meinungen und Einsichten nicht kannten. Natürlich war es auch wichtig, dass sich einzelne profilieren konnten. Sehen, hören und gesehen, gehört werden und zwar von vielen, auch von allen, das war wichtig, aber bitte schön nicht so lange und auf Kosten des Gros der Menschen, denn wie immer saßen nur einige wenige vorne und nur einer redete, während die vielen anderen zuhörten und zu passivem Konsumismus verdammt waren. Das war ineffektiv, fand Sabrina, jedenfalls wenn es um Beteiligung, um Engagement, um Selbstentfaltung, um den Ausbruch und den Aufbruch aus der Konsumgesellschaft und der passiven Berieselungskultur ging.

Währenddessen kochte sich Stefan in seiner Küche einen Kaffee. Der Radiobericht machte ihm klar, dass auch die Grünen nicht kapiert hatten, dass er als Langzeit Arbeitsloser schon lange nicht mehr daran dachte, ins Arbeitsleben, in den ersten Arbeitsmarkt reintegriert zu werden. Er hatte einfach keinen Bock, wie Sören als Altenpfleger für ein paar Mäuse den Stress und die Tretmühle der Maloche zu durchleiden, denn die Leute machten sich in diesen Arbeitsverhältnissen gegenseitig fertig. Er wusste, dass er das niemandem sagen durfte. Bei entsprechend Gelegenheiten hielt er klein laut den Mund. Sein Protest, bei dem Gerenne nach dem Geld nicht mitzumachen, kam ihm manchmal selber vor wie ein über die Pubertät hinweg gerettetes Relikt aus seiner präödipalen Trotzphase. Letztlich aber war es nichts anderes als sein Versuch einer intellektuellen Rechtfertigung der Art seines Daseins. Es war doch eigentlich ein bewundernswertes Wunder, dass er mit Hartz IV, nämlich dem Vorläufer des bedingungslosen Grundeinkommen, über die Runden kam. Die Piraten versprachen besseres. Die Linken waren auch nicht schlecht, schließlich gab es in Ostdeutschland noch eine grassierende Arbeitslosigkeit, aber das bedingungslose Grundeinkommen hatten nur die Piraten im Programm. Da er mit seiner Ansicht niedergeschrien würde von der Mehrheit der schwer arbeitenden Polit-Funktionäre der Grünen blieb gar nichts anderes als über Renate Künast's: Auf geht’s! müde zu lächeln.

Trotzdem schwang sich Stefan, der Langzeit Arbeitslose aus Hannover, mit seinem Laptop unterm Arm aufs Fahrrad und machte sich auf den Weg in die Eilenriedehalle, denn da war etwas los. Sie ließen ihn als Gast ein. Als er sich umgeschaut hatte setzte er sich und schaute sich den Grünen Parteitag an. Er kannte niemanden persönlich, kam mit niemanden ins Gespräch, keine Diskussionen, kein Austausch, was sollte er da? Mit machen? Bei den Grünen eintreten und die parteiinterne Tretmühle durchlaufen? Das machte doch keinen Spaß. Online Schach spielen, das brachte Ablenkung, das brachte Spannung. Er schlug seinen Lapy auf und fing zu spielen an. Mit halbem Ohr lauschte er den Parteitagsreden, so vergingen die Stunden, der Abend. Im Grunde hätte er gar nicht von Döhren rüber zur Eilenriedehalle radeln brauchen, um sich diese Quasselbude anzutun. Zuhause wäre es schöner gewesen. Dennoch machte ihn etwas stutzig. Im Grunde war es die komprimierte Spiegelung seines sinnlosen Lebens als Langzeit Arbeitsloser und noch ein Spiel. Er befand sich am Rand, vor ihm lief das Leben ab, er konnte zu hören, zu sehen aber zum Mitmachen fehlte ihm etwas. Er drehte sich in einem circulus virtuosis den er offensichtlich nicht alleine durchbrechen konnte.

Auf den Screens und in der großen Halle liefen die Vorstellungsreden für die Parteiratswahlen ab. Boris Palmer, der schon berühmte OBM aus Tübingen stellte sich vor. Ein jung dynamischer, gut aussehender Mann, schnittig und klar in seiner Denke, in seiner Sprache, bestimmt würden sie ihn wählen. Aus dem Publikum wurden den Kandidaten Fragen gestellt. Boris ereilte die Frage aus dem Kreisverein von Brunsbüttel, wieso er auf ihre Einladung zu einer Wahlveranstaltung geantwortet habe, er käme gerne, wenn ihm der Kreisverein den Flug zahle. Spannung, die Grünen waren gegen die Umweltverschmutzer der Lüfte und von Stuttgart bis Hamburg zu fliegen stand für viele auf der schwarzen Liste, zumal vorbildliches Tun insbesondere für Mandatsträger galt. Was würde dieser Shooting Star der Grünen antworten. Stefans Empfinden nach war Boris geliefert, er selber hätte sich getroffen gewunden. Nicht so Boris. Markant, ich-stark und selbstbewusst seine Antwort, er habe einen 80 Stunden Woche, eine Familie und wenn er am nächsten Tag um 14 Uhr wieder im Rathaus sein wolle, dann bräuchte er eben einen Flug. Das kam rüber, das kam an, solch kräftigen, alles hinweg fegenden Antworten liebten die Politiker. Lautstarkes Klatschen im ganzen Saal. Auch Stefan war von der frechen, kecken Selbstbewusstheit beeindruckt. 80 Stunden arbeitete der Mann – Wahnsinn! Die arme Familie, schob er bedauernd nach und was der Boris alles im Kopf hatte, wenn er dann im Rathaus ankam um 14 Uhr. Wow! Abgeschlagen wandte sich Stefan wieder seinem Schachspiel zu. Er würde es auf keinen Fall so weit bringen wie Boris, er wollte das auch gar nicht. Das Leistungsideal sich halb tot arbeitender, ehrenamtlicher Mitarbeiter in den Parteizentralen war ihm schon mehrmals entgegen geschlagen. Die Leute wurden doch ausgenützt mit ihrem Leistungswillen, sich für eine bessere Welt und andere politische Verhältnisse einzusetzen. Mit 80 Stunden, also wenn man doppelt so viel wie die wöchentliche Arbeitszeit arbeitete, dann stand man natürlich im Mittelpunkt des Geschehens, das war der Lohn, zu dem sich weiteres fügte. Super!

Die letzte Rednerin, bevor er ging, war die Vize-Vorsitzende der japanischen Grünen, Uiko Hasegawa. Die Greens Japan, Midori no Tō, hatten nach Fukushima erheblichen Zuspruch gewonnen, um aber, so Uiko, überhaupt die formellen Hürden überwinden zu können damit sie an den Parlamentswahlen teilnehmen durften, waren erhebliche Geldsummen notwendig. Sie rechneten mit einer Million. Das war doch zu machen, dachte Stefan. Ihr legt, wie der 1. FC Union Berlin, Aktien oder Anleihen auf, die die Mitglieder, Fans und Stammwähler kaufen und die im Falle des Einzugs ins Parlament mit Gewinn zurück gezahlt werden können. Wahrscheinlich musste solch einen Profit Vorschlag ein Leitwolf wie der Palmer mit seiner Ichstärke vortragen, damit die Moralisten und Anti-Kapitalisten bei den Grünen überstimmt wurden.

Kautilya
thinking to destroy the Nanda kings
let ask whether this Palmer is like his Chandragupta



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