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Sabrina, die sich bisher dem Lager
der SPD zugeneigt hatte, fand so
etwas unmöglich, das war Verrat an
den progressiv alternativen
Gesellschaftskräften. Für sie hätten
die SPD, die Grünen und die Linken
schon längst mit ihrer Mehrheit
regieren sollen. Sie versuchte die
Meldung online zu googeln, siehe da,
der Madsack Konzern brachte sie
nicht online, er hatte sie aus einem
Spiegel-Interview
abgeschrieben.
Klar
wurde, Niedersachsen
befand
sich im Wahlkampf. Der
Spitzenkandidat der SPD, Stephan
Weil, berief publikumswirksam Doris
Schröder-Köpf, die Gattin des
hannöverschen Ex-Kanzlers Schröder,
als Integrationsbeauftragte in sein
Wahlkampfteam. Sabrina spottete: Die
soll jetzt wohl so etwas wie Hillary
Clinton werden.
Die 12. Vollversammlung
und Jürgens Rede
Eigentlich
genau
wie bei der SPD, dachte Sabrina.
Parteitage sehen anscheinend überall
gleich aus: Im Eingangsbereich
Tische zum Einchecken der
Delegierten, für Gäste und Presse,
Stände von Lobbyisten, die mit
heißen Waffeln, Kaffee und mit
Süßigkeiten lockten. Bei der SPD
fanden sich spendablere Sponsoren,
die gleich für ein umfangreiches
Buffet und die Getränke sorgten. In
der Halle Tischreihen, im
Hintergrund Türme für
Fernseh-Kameras, vorne eine Bühne
mit zwei Tischreihen links und
rechts, in der Mitte der Ort, um den
es geht, das Rednerpult. Das war der
zentrale Ort in demokratischen
Systemen. Grußworte, unter anderem
vom SPD Kandidaten Weil, Abarbeitung
von Obligationen aus dem
Versammlungsrecht: Tagesordnung,
Beschlussfähigkeit,
Kommissionsbestätigungen, es dauerte
bis es zur Vorstellung der beiden
Spitzenkandidaten kam. Ermüdung.
Workshops
Sabrina
hatte es schon bei der Genfer UNO Konferenz gegen
Apartheid und Rassismus,
erlebt, dass neben der Konferenz der
Diplomaten Workshops zu
Spezialthemen abgehalten wurden. Das
bereicherte solche
Großveranstaltungen nicht nur,
sondern ließ die Teilnehmer mehr in
Kontakt zueinander kommen. Man
konnte sich beteiligen, mit
diskutieren, sich einbringen. Man
war nicht nur auf die Rolle des
passiven Konsumenten und Zuhörers
beschränkt, der vielleicht auch mal
nach vorne ans Rednerpult treten
durfte, um dort die große Erfahrung
des Redens zu machen.
Sabrina
entschied sich, in den Workshop von
Reinhard Bütikofer, dem
EU-Parlamentarier und neuerdings
Vorsitzenden der EU-Grünen, zu
gehen. Es ging um Südeuropa, um
einen Neuanfang dieser von der
Finanzkrise gebeutelten Länder.
Reinhard brachte den einzigen
griechischen MeP der Grünen mit, Nikos
Chrysogelos. Der
schilderte, dass die Grünen in
Griechenland eine Kleinstpartei
waren, dass das Land polarisiert in
Rechts- und Linksradikalismus
zerfiel, dass die ökologische
Erneuerung der Wirtschaft vor allem
in der Schifffahrt, in der
Landwirtschaft und im Tourismus
Chancen habe, zum Beispiel würden
die Lebensmittel der Tourismushotels
nicht aus lokalem Anbau kommen,
sondern sie würden importiert.
Sabrina meldete sich und bat, Niko
möge ihr weitere, lukrative
Investitionsmöglichkeiten in
Griechenland aufzeigen, denn es
ginge doch darum die 200 Milliarden
Fluchtgelder der Griechen ins Land
zurück zu holen. Niko antwortete, es
gebe einige Kooperativen und
Genossenschaften, Sabrina
bezweifelte, dass diese eine
vernünftige Rendite
erwirtschafteten. Das war das
typische Dilemma von rechts-links,
von Profit versus sozialen
Ansprüchen, diesmal auf griechisch
verzerrt in eine unüberbrückbare
Differenz.
Die Kandidatenreden
Ging es
darum, fragte sich Sabrina, wie sie
Katrin
Göring-Eckardt, die
weibliche Spitzenkandidatin der
Grünen fand? Hübsch, nett, zierlich,
bestimmt eine kleinkrämerische
Zicke, wenn es galt, mit ihr etwas
auszukakeln und vor allem fleißig,
fleißig, denn sie kam ja aus dem
Osten. Ohne Frage, Katrin kam an,
ein runder, sympathischer Tonfall.
Dass sie in den Medien als Christin
hoch gejubelt wurde, war ihren
Worten nicht explizit zu entnehmen.
Zwar verrieten einige Redewendungen
und Begriffe, dass sie sich Gedanken
über Kinder, Gesellschaft, Religion
und Wirtschaft in gewissen, zum
Beispiel Kirchentags- Kreisen
gemacht haben mochte, aber ein
missionarischer Impetus war bei ihr
nicht heraus zu hören.
Ihr
folgte die Kandidatenrede Jürgen
Trittins. Der Tonfall der gesetzten
Sprache, die sich langsam steigerte,
jeder Satz klar und deutlich, der
Zuhörer wurde mitgenommen, in
Zustimmung und Begeisterung
versetzt. Sabrina erinnerte der
Tonfall, der Klang, die Rhetorik, an
die Reden des Alt-Kanzlers Schröder.
Lag es an den Lautsprechern, an der
Technik, die unweigerlich zu diesem
Stimmklang führte oder war es auch
ein Stück Übung und Einstudierung
der Redeweise des Alt-Kanzlers, die
eben nicht nur Erinnerungen weckte,
sondern anknüpfend an die erste
rot-grüne Koalition, in der Jürgen
maßgeblich als Grüner Umweltminister
beteiligt war? Jürgen verbreitet die
Stimmung des Neuanfangs und des
Aufbruchs überzeugend. Aus dem Munde
eines Originals vermittelt sich: We
can do it! Wir schaffen es! Sabrina
war begeistert. Immer mehr legte sie
ihre kritische Distanziertheit ab,
was sie ärgerte, denn als Welten
online Journalistin hatte sie kühl,
distanziert und objektiv zu sein.
Sie hörte da jemanden professionell
von Herzen sprechen. Ja, genau das
war es, was gebraucht wurde, da war
Auseinandersetzung, da war Witz und
Humor, da waren Argumente, die
überzeugten und das Gefühl von
Gemeinsamkeit, von: Wir verändern
die Welt! Von : Yes, we can! Mit
Trittin würde noch mehr möglich sein
als nur ein Finanzminister. Der
neue, grüne OBM von Stuttgart, Fritz
Kuhn, stellte in seiner
anschließenden Rede der
Vollversammlung dieses Amt als
Zielvorgabe Trittins in den Raum.
Die Bildung des Schattenkabinetts
war im vollen Gange. Wer erhob
Anspruch auf den Posten des
Außenministers und des
Vize-Kanzlers? Es blieb abzuwarten,
wie sich die nächsten Tage und
Wochen entwickelten.
Nach der
Rede standing ovations, das war
üblich auf Parteitagen, selbst wenn
der einzelne Delegierte nicht ganz
der Meinung des Kandidaten war. Es
galt Solidarität zu üben, es war
sichtbarer Ausdruck der
Parteidisziplin, die bei
Abstimmungen meist über die
eigenverantwortliche
Gewissensentscheidung gestellt
wurde. Doch auch Sabrina klatschte.
Jürgens Rede hatte ihr gefallen. Als
er dann mit Katrin auf der Bühne
stand, war das Bild perfekt: Ein
politisches Liebespaar, sie stand
für den christlichen Glauben, für
Kinder und Soziales, und er für die
materialistischen Fakten, für die
Finanzen, für die Anti-AKW-Bewegung.
Das lebendige, kreative Liebespaar
als Ausgangspunkt von Familie und
Gesellschaft im Mittelpunkt der
Grünen. Die Partei und ihre diversen
Experten arbeiteten ihm zu, denn das
Liebes-Ehe-Eltern-Beziehungspaar war
es, das die Widersprüche nicht nur
von Glauben und Wirklichkeit, von
Wunsch und Möglichem überbrückte,
sondern erst schuf, weil sich in
dieser Quelle der Gegensätze von
männlichem und weiblichen, von Ying
und Yang, die Lösungen am nächsten
lagen.
Tatsächlich
war
den Grünen mit ihrem Modus der
weiblich-männlichen Doppelspitze ein
besonderer Wurf gelungen. Auch
andere Parteiämter wurden
gleichberechtigt nebeneinander mit
einer Frau und einem Mann besetzt.
Es schien zu klappen, denn Sabrina
waren zum Beispiel aus dem
Parteivorsitz von Claudia Roth und
Czem Özdemir keine Querelen zu Ohren
gekommen. Wenn die Alternativen in
der Gründungszeit mit dem
Rotationsprinzip angefangen hatten,
dann brachten sie nun erneut eine
Innovation in die politischen
Strukturen ein.
Auf die
Frage, wie es denn gehandhabt würde,
wenn die Anforderungen einer
Amstübernahme es erforderlich
machten, dass nur eine Person den
Posten bekleiden könne, sagten ihr
zwei grüne Delegierte, dass, wenn es
ein Mann wäre, dieser per Wahl die
Zustimmung der Frauen bräuchte.
Umgekehrt galt das nicht, denn in
Spitzenfunktionen gab es immer noch
mehr Männer als Frauen bei den
Grünen.
Grün-Rote Knackpunkte
Die
Presse Lounge mit eigener Bar und
freiem Catering, also Kaffee, Wasser
und gelegentlich belegte Brötchen,
war kein Intershop, in dem
sich die hohen Parteifunktionäre
tummeln durften, um ihre Devisen
auszugeben. Dennoch sorgten mondäne
Ledersessel für Club Atmosphäre und
gediegenere Gespräche. Sabrina und
Uli, die Welten online Chefredakteur
Urs Stoffolsky zum Bundesparteitag
geschickt hatte, tauschten gerade
ihre letzten Eindrücke aus, als Ulis
Handy in der Jackett Tasche
vibrierte. Es war Jens, ein alter
Freund aus hannöverschen Tagen. Dass
Jens ihn ausgerechnet jetzt anrief,
wo er gerade in Hannover auf dem
Bundesparteitag der Grünen
angekommen war und wo ihn Jens
ansonsten nie anrief, das fand Uli
mehr las zufällig, um nicht zu
sagen, er fand es seltsam. Ein so
zufälliger Zufall weckte ihm
psychotische Überwachungsfantasien.
Vor Tagen hatte die
Telefongesellschaft O2 gemeldet, sie
wolle die Bewegungsdaten ihrer
Kundschaft anonymisieren und zu
Werbezwecken verkaufen. Mittels
Cookies überwachte man auch seinen
Laptop, denn er erhielt jeweils nach
Standort lokale Werbe Pop-ups. Es
war also ein Leichtes Jens, der ein
Politischer war, über sein Kommen zu
informieren. Zu Stasi Zeiten wäre es
denkbar gewesen, dass man seinen
alten Freund direkt auf ihn
angesetzt hätte, um ihn, den
Journalisten, zu beeinflussen. Nur,
das DDR Regime existierte nicht
mehr. Außerdem war Jens kein Stasi
Mann, sondern ein SPD´ler. Dennoch
konnte es ein Interesse geben, Jens
darauf zu bringen, ihn anzurufen.
Mit unterschwelliger Beeinflussung
über dessen IPhone und
Web-Aktivitäten sollte das doch
machbar sein. Die individuelle
Fernsteuerung von Menschen und deren
Verhalten war nicht nur eine Sache
der Werbung, sondern auch der
Geheimdienste und der politischen
Auseinandersetzungen. Es war davon
auszugehen, dass der
Verfassungsschutz und die
Geheimdienste gezielt eingesetzt
wurden, um insbesondere solche
Mitglieder der Politelite wie sie
selbst zu manipulieren. Oder wozu
sonst hatte sich der BND in Berlin
eine schon Stadt zu nennende
verbotene Stadt in der Stadt erbaut.
Uli und
Jens kannten sich noch aus der
Prä-Schröder Zeit. Jens selber hatte
in Studententagen mit Gerd
Doppelkopf gespielt. Den Weil, den
jetzigen SPD Spitzenkandidaten,
kannte er aus der Nachbarschaft und
selbst von Oertzen, eine
hannöversche SPD Größe, zeitweilig
im Parteipräsidium der SPD, hatte zu
seinen Bekannten gehört. Im Grunde
war Jens Ulis politischer Mentor bis
sich vor 15 Jahren ihre Wege
trennten. Eigentlich
unverständlicher Weise, denn sie
waren dicke Freunde. Uli vermutete,
es lag an dem damaligen Freund von
Jens, denn Jens war knalle schwul,
was in ihrer Freundschaft manchmal
zu einigen Irritationen geführt
hatte, denn Uli blieb schlicht ein
stinknormaler Hetero.
Sie
verabredeten sich im Spandau, einer
Studentenkneipe in der Nordstadt.
Den Parteitags Trubel hatte er satt,
außerdem würde Sabrina die Stellung
halten. Ein Gespräch mit Jens würde
Hintergrund Infos bringen, auf die
er unter all den Grünen bestimmt
nicht käme. Vor drei Jahren war er
aus der SPD ausgetreten. Der
Hick-Hack mit der Linken und die
immer weiter nach rechts
abdriftenden Politiken der
Kanalarbeiterfraktion hatten ihn
verdrossen. Wahrscheinlich sah Jens
in ihm den Abtrünnigen, den Verräter
und darüber hinaus mochte er in ihm
den dummen Schwätzer sehen, der ein
wenig rum blubberte und dann auch
schon aus dem Atem gekommen aufgab
und schwieg, weil er nichts mehr zu
sagen wusste. Mochte er doch, sollte
er doch, dachte sich Uli, nach ihrem
Treffen auf dem Weg ins Hotel Momo.
Was Jens in ihrem Gespräch getroffen
hatte, war seine Erwiderung als es
um die Komplementärrolle des
kleineren Koalitionspartners ging.
Anno Schröder hatten die Grünen
diesen gegeben und zu Zwecken der
Machtdemonstration wurden sie Catch
as catch can immer wieder unter
Stöhnen und Ächzen zu Boden
geworfen. Die Vorstellung, die SPD
könnte, wie schon in
Baden-Württemberg, in diese Rolle
kommen und dann ohne Scheu in die
Große Koalition abwandern, zeigte
Uli, dass Cohn-Bendit Recht hatte.
Die Rolle des
Minderheitskoalitionärs schmeckte
den Sozialdemokraten gar nicht. Das
machte die Cohn-Bendit Äußerung so
bedeutsam. Von daher wehte denn auch
der Wind in ihrem Gespräch. Jens,
der SPD´ler, hielt ihn klein, nahm
ihm den Wind aus den Segeln und
suchte ihn reden zu lassen, so dass
er sich selber erst altklug und dann
dumm vorkam.
Der
zweite, markante Punkt ihres
Gespräches bestand in der Differenz
der Grünen zu den Sozialdemokraten
in Bezug auf die Auto- bzw.
Verkehrspolitik, wobei es
insbesondere um die Hardliner
Position der Berliner und um Renate
Künast ging. Uli versicherte Jens,
dass er zwar nicht ganz diese
Hardliner Position vertrete, aber er
stellte sich vorsichtig auf die
Seite der Anti-Auto Fraktion. Uli
war klar, dass die Sozialdemokraten
damit in großen Teilen der
autoabhängigen Gesellschaft
punkteten. Im Grunde war es eine
Radikalposition der Grünen, so wie
es die Ausstiegsforderungen der
Anti-Atomkraft Bewegung einmal
gewesen waren. Wollten die Grünen
mit ihrer Anti-Auto-Politik daran
wirklich anknüpfen? An der Auto
Industrie hing zu viel, das war
schließlich nicht nur die Liebe zum
Autofahren, das waren Arbeitsplätze.
Auf geht’s! - Und was
ist mit dem bedingungslosen
Grundeinkommen?
Keinen
Bock!, sagte Stefan, der Langzeit
Arbeitslose, als er Renate Künast's
Wahlkampf Aufruf im Radio hörte. Ein
paar Minuten vorher hatten die
Delegierten des 12.
Bundesparteitages der Grünen den Änderungsantrag
von
Sven Lehmann
abgelehnt. Es ging um die Frage, ob
die Grünen nur zeitweise die
Sanktionen des Arbeitsamtes
aussetzen lassen oder aber ganz
abschaffen wollten. Der
Bundesvorstand der Grünen, der BuVo,
hatte in seinem sozialpolitischen
Antrag ein
Sanktionsmoratorium gefordert. Im
Antrag des BuVos stand das in Zeile
483. Sabrina brauchte, bis sie sich
in das Gewirr von Anträgen und
Gegenanträgen eingefuchst hatte. Für
einen unbedarften Zuhörer wie sie
klang das Aufrufen von Kürzeln und
Zahlen, über die dann per
Handzeichen abgestimmt wurde, wie
die von Menschen betriebene
Feinmechanik einer Uhr bei der die
Zahnräder ineinander griffen, um den
Zeiger über das Ziffernblatt zu
drehen. Dabei befand man sich doch
im digitalen Zeitalter. Sie verwarf
die folgenden bildhaften
Assoziationen sofort, denn es ging
ihr nicht darum, die Stimmkarten
durch online Abstimmungen zu
ersetzen. Man verwendete dazu
spezielle, wie TV Zapper
funktionierende TeleVoter. Die
würden nichts an den Kürzeln und
Zeilenzahlen ändern, die vom Podium
hinunter hin zu den an Tischreihen
plazierten Delegierten gerufen
wurden, schimpfte sie. Das war doch
keine Diskussion und dann Abstimmung
und Mehrheitsfindung. Ihr war klar,
das sie damit eine grundsätzliche
Demokratiekritik vom Stapel brach.
Die Idee der demokratischen
Mehrheitsfindung war Quatsch, ja,
die Mehrheitsentscheidung als
solche. Erstens, wer sagte, dass die
Mehrheit das richtige und beste
bestimmte und zweitens, dass die
Mehrheit in der einen Gruppe bzw.
Partei unweigerlich zu einer
weiteren Mehrheit in einer anderen
und nächsten Versammlung führte.
Worauf es ankam war, dass die Leute
ins Reden miteinander kamen, dass
sie miteinander diskutierten und
genügend Möglichkeiten da waren,
sich kennenzulernen, denn das war
doch das aller wichtigste in einem
Haufen von Leuten, in denen sich die
meisten samt ihrer Meinungen und
Einsichten nicht kannten. Natürlich
war es auch wichtig, dass sich
einzelne profilieren konnten. Sehen,
hören und gesehen, gehört werden und
zwar von vielen, auch von allen, das
war wichtig, aber bitte schön nicht
so lange und auf Kosten des Gros der
Menschen, denn wie immer saßen nur
einige wenige vorne und nur einer
redete, während die vielen anderen
zuhörten und zu passivem Konsumismus
verdammt waren. Das war ineffektiv,
fand Sabrina, jedenfalls wenn es um
Beteiligung, um Engagement, um
Selbstentfaltung, um den Ausbruch
und den Aufbruch aus der
Konsumgesellschaft und der passiven
Berieselungskultur ging.
Währenddessen
kochte
sich Stefan in seiner Küche einen
Kaffee. Der Radiobericht machte ihm
klar, dass auch die Grünen nicht
kapiert hatten, dass er als Langzeit
Arbeitsloser schon lange nicht mehr
daran dachte, ins Arbeitsleben, in
den ersten Arbeitsmarkt reintegriert
zu werden. Er hatte einfach keinen
Bock, wie Sören als Altenpfleger für
ein paar Mäuse den Stress und die
Tretmühle der Maloche zu
durchleiden, denn die Leute machten
sich in diesen Arbeitsverhältnissen
gegenseitig fertig. Er wusste, dass
er das niemandem sagen durfte. Bei
entsprechend Gelegenheiten hielt er
klein laut den Mund. Sein Protest,
bei dem Gerenne nach dem Geld nicht
mitzumachen, kam ihm manchmal selber
vor wie ein über die Pubertät hinweg
gerettetes Relikt aus seiner
präödipalen Trotzphase. Letztlich
aber war es nichts anderes als sein
Versuch einer intellektuellen
Rechtfertigung der Art seines
Daseins. Es war doch eigentlich ein
bewundernswertes Wunder, dass er mit
Hartz IV, nämlich dem Vorläufer des
bedingungslosen Grundeinkommen, über
die Runden kam. Die Piraten
versprachen besseres. Die Linken
waren auch nicht schlecht,
schließlich gab es in Ostdeutschland
noch eine grassierende
Arbeitslosigkeit, aber das
bedingungslose Grundeinkommen hatten
nur die Piraten im Programm. Da er
mit seiner Ansicht niedergeschrien
würde von der Mehrheit der schwer
arbeitenden Polit-Funktionäre der
Grünen blieb gar nichts anderes als
über Renate Künast's: Auf geht’s!
müde zu lächeln.
Trotzdem
schwang sich Stefan, der Langzeit
Arbeitslose aus Hannover, mit seinem
Laptop unterm Arm aufs Fahrrad und
machte sich auf den Weg in die
Eilenriedehalle, denn da war etwas
los. Sie ließen ihn als Gast ein.
Als er sich umgeschaut hatte setzte
er sich und schaute sich den Grünen
Parteitag an. Er kannte niemanden
persönlich, kam mit niemanden ins
Gespräch, keine Diskussionen, kein
Austausch, was sollte er da? Mit
machen? Bei den Grünen eintreten und
die parteiinterne Tretmühle
durchlaufen? Das machte doch keinen
Spaß. Online Schach spielen, das
brachte Ablenkung, das brachte
Spannung. Er schlug seinen Lapy auf
und fing zu spielen an. Mit halbem
Ohr lauschte er den Parteitagsreden,
so vergingen die Stunden, der Abend.
Im Grunde hätte er gar nicht von
Döhren rüber zur Eilenriedehalle
radeln brauchen, um sich diese
Quasselbude anzutun. Zuhause wäre es
schöner gewesen. Dennoch machte ihn
etwas stutzig. Im Grunde war es die
komprimierte Spiegelung seines
sinnlosen Lebens als Langzeit
Arbeitsloser und noch ein Spiel. Er
befand sich am Rand, vor ihm lief
das Leben ab, er konnte zu hören, zu
sehen aber zum Mitmachen fehlte ihm
etwas. Er drehte sich in einem
circulus virtuosis den er
offensichtlich nicht alleine
durchbrechen konnte.
Auf den
Screens und in der großen Halle
liefen die Vorstellungsreden für die
Parteiratswahlen ab. Boris Palmer,
der schon berühmte OBM aus Tübingen
stellte sich vor. Ein jung
dynamischer, gut aussehender Mann,
schnittig und klar in seiner Denke,
in seiner Sprache, bestimmt würden
sie ihn wählen. Aus dem Publikum
wurden den Kandidaten Fragen
gestellt. Boris ereilte die Frage
aus dem Kreisverein von Brunsbüttel,
wieso er auf ihre Einladung zu einer
Wahlveranstaltung geantwortet habe,
er käme gerne, wenn ihm der
Kreisverein den Flug zahle.
Spannung, die Grünen waren gegen die
Umweltverschmutzer der Lüfte und von
Stuttgart bis Hamburg zu fliegen
stand für viele auf der schwarzen
Liste, zumal vorbildliches Tun
insbesondere für Mandatsträger galt.
Was würde dieser Shooting Star der
Grünen antworten. Stefans Empfinden
nach war Boris geliefert, er selber
hätte sich getroffen gewunden. Nicht
so Boris. Markant, ich-stark und
selbstbewusst seine Antwort, er habe
einen 80 Stunden Woche, eine Familie
und wenn er am nächsten Tag um 14
Uhr wieder im Rathaus sein wolle,
dann bräuchte er eben einen Flug.
Das kam rüber, das kam an, solch
kräftigen, alles hinweg fegenden
Antworten liebten die Politiker.
Lautstarkes Klatschen im ganzen
Saal. Auch Stefan war von der
frechen, kecken Selbstbewusstheit
beeindruckt. 80 Stunden arbeitete
der Mann – Wahnsinn! Die arme
Familie, schob er bedauernd nach und
was der Boris alles im Kopf hatte,
wenn er dann im Rathaus ankam um 14
Uhr. Wow! Abgeschlagen wandte sich
Stefan wieder seinem Schachspiel zu.
Er würde es auf keinen Fall so weit
bringen wie Boris, er wollte das
auch gar nicht. Das Leistungsideal
sich halb tot arbeitender,
ehrenamtlicher Mitarbeiter in den
Parteizentralen war ihm schon
mehrmals entgegen geschlagen. Die
Leute wurden doch ausgenützt mit
ihrem Leistungswillen, sich für eine
bessere Welt und andere politische
Verhältnisse einzusetzen. Mit 80
Stunden, also wenn man doppelt so
viel wie die wöchentliche
Arbeitszeit arbeitete, dann stand
man natürlich im Mittelpunkt des
Geschehens, das war der Lohn, zu dem
sich weiteres fügte. Super!
Die
letzte Rednerin, bevor er ging, war
die Vize-Vorsitzende der japanischen
Grünen, Uiko Hasegawa. Die Greens
Japan, Midori
no
Tō, hatten
nach Fukushima erheblichen Zuspruch
gewonnen, um aber, so Uiko,
überhaupt die formellen Hürden
überwinden zu können damit sie an
den Parlamentswahlen teilnehmen
durften, waren erhebliche Geldsummen
notwendig. Sie rechneten mit einer
Million. Das war doch zu machen,
dachte Stefan. Ihr legt, wie der 1. FC Union
Berlin, Aktien
oder Anleihen auf, die die
Mitglieder, Fans und Stammwähler
kaufen und die im Falle des Einzugs
ins Parlament mit Gewinn zurück
gezahlt werden können.
Wahrscheinlich musste solch einen
Profit Vorschlag ein Leitwolf wie
der Palmer mit seiner Ichstärke
vortragen, damit die Moralisten und
Anti-Kapitalisten bei den Grünen
überstimmt wurden.
Kautilya
thinking to destroy the Nanda kings
let ask whether this Palmer is like
his Chandragupta
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