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Es lebe die Elite, das Establishment und die Hierarchie!

Berlin, 26. Juni 2010, 1. Mitgliederversammlung des ISM, Institut Solidarische Moderne, DG

 

ISM LogoMicha Welten kam niedergeschlagen zurück von dieser hochkarätigen Politveranstaltung, der ersten Mitgliederversammlung des Instituts Solidarische Moderne. Er hatte sich auf der Versammlung weit aus dem Fenster gehängt, in dem er mehrmals das Wort ergriff und den Ablauf der Veranstaltung kritisierte. Das war natürlich keine Art und dann zu erwarten, dass er mit Freuden als Beisitzer gewählt werden würde, das war wohl zu viel verlangt.

 

Er fand, die Leute hatten sich mit Sprachhülsen, mit Platitüden, mit ausgeleierten Phrasen und Begriffen beschmissen und zu guter letzt, am späten Abend, über einem mehrseitigen Positionspapier mit Änderungsanträgen und Abstimmungen zu Gericht gesessen, um dies Papier, sozusagen als Zusammenfassung ihrer Phrasendrescherei, der Öffentlichkeit als Aushängeschild und Absichtserklärung vorzusetzen. Also, so schloss Welten, dieser sich mehr und mehr als ThinkTank begreifende CrossOver Verein, der angetreten war, einen Brückenschlag zu versuchen, die auseinander driftenden und jeweils einzeln um Wählerstimmen buhlenden drei Parteien im linken Spektrum, die Grünen, die Linke und die SPD, bereit zu machen für ein Bündnis, für eine Allianz, letztlich für eine dauerhafte Listenverbindung, war doch nichts anderes als eine weitere Pamphlete Fabrik. Als wenn es nicht schon genug Papiere gebe. Weltens Kritik bezog sich vor allem auf die Strukturen dieser ach so deutschen Vereinsmeierei und der dabei sich herausbildenden Hierarchie, die natürlich an die vorgegebene also an die bestehende anknüpfte, um diese fortzusetzen.

 

Wenn das Vereinsrecht Haar klein vorgab, wie bestimmte Statuten und damit noch aus der Kaiserzeit stammende Regularien: Wahl des Vorstandes, der Beisitzer, des Kassenwarts etc. zu erfüllen waren, dann war auch ein Die da Oben und ein Die da Unten eingesetzt. Gab es dazu keine Alternative? Weltens Eindruck, er sollte lediglich das menschliche Massenmaterial der diesem Verein vorsitzenden Polit-Prominenz darstellen, stieß ihm wahrlich auf. Doch sein Einwand wurde vom Tisch gefegt. Schließlich sei Prominenz so etwas wie kulturelles Kapital, um nicht zu sagen politisches Kapital, was darauf hinaus lief, dass sich fünf Polit Medien Stars: Andrea Ypsilanti, Hermann Scheer, Katja Kipping, Sven Giegold, Anke Martiny sowie, um nur einige aus dem akademischen Viertel zu nennen, die Politprofessoren Lessenich, Mahnkopf, Schluchter II und nicht zu vergessen den zur Ikone der Marxismuslehre aufgestiegenen Elmar Altvater, zusammen taten und von oben herab per Gründungsaufruf einen Verein, ein Institut und ihre mediale Massenbewegung gründeten, als handele es sich um ein Unternehmen, nur eben im politischen Feld. Nein, das war nichts neues, Marx und Engels hatten nichts anderes gemacht, an so etwas wollte Micha Welten nicht mitarbeiten. Auf Wiedersehen! Ihm kam es viel mehr darauf an, in wie weit die Leute befähigt wurden, in Austauschprozesse, in Beziehungen, in gemeinsame Vorhaben zu kommen, die über so etwas wie ein vorformuliertes Positionspapier hinaus gingen. Anscheinend waren das bei ihm noch grüne Restbestände von Wunschvorstellungen aus den 80er Jahren mit Rotationsprinzip und Kreisplenum. Die Zeiten waren nun endgültig vorbei. Wie so viele würde er lieber abtauchen in die politische Resignation, in die Nicht-Wählerschaft eines sich demokratisch schimpfenden Systems, dass in Wahrheit eine sich selbst vorschlagende und wählende Elitenherrschaft darstellte.

 

Es war ein heißer, sonnenbeschienener Samstag Nachmittag, als Michael Welten mit dem Fahrrad zum Tagungsort angeradelt kam. Er wunderte sich, dass die Mitgliederversammlung des Instituts Solidarische Moderne (ISM) im Gemeindesaal der Jerusalem Kirche nicht unweit gegenüber dem Jüdischen Museum in Berlin tagte. Der Saal war ihm einschlägig von einer DGB Veranstaltung her bekannt. Die Sonne hüllte den Platz vor dem Eingang in gleißendes Licht, an Stehtischen gruppierten sich einige Leute. Auf Welten machten sie den Eindruck von distinguierten Leuten, die durchaus den Erwartungen für eine Gemeindeversammlung entsprachen, wobei ihre Kleidung sachliche Strenge, gepaart mit einem modischen Einschuss, ausstrahlte und derart die Gegenkultur zur Anzug mit Krawatte oder Deux Pièce tragenden Geschäftswelt darstellte. Auch altersmäßig handelte es sich um avanciertere Jahrgänge von Gewordenheiten.

 

Im Empfangsbereich ließ es sich Andrea Ypsilanti, die noch in Hessen 2008 mit einer Links Allianz scheiterte, nicht nehmen, die Ankömmlinge persönlich zu begrüßen und ihnen am Empfangstisch die Unterlagen für die Versammlung zu überreichen, wobei sie für jeden, auch für Welten, den sie noch nicht kannte, freundliche Worte fand - noch.

 

Danach, mit einem Glas in der Hand, gesellte sich Welten an einen der Tische draußen in der Sonne und fand sich bald im Gespräch mit zwei Frauen. Die eine erzählte, sie habe am Vortag Elmar Altvater sprechen hören. Just in diesem Moment kam er auf den Gemeinde Vorplatz geradelt. Welch Zeichen, wo sie doch gerade von ihm gesprochen habe, bemerkte die junge Frau. Auch Welten nahm es als ein Zeichen höherer, waltender Kräfte von Zufall und Übereinstimmung, wobei er an den C.G. Jungschen Synchronizismus dachte und daraus schloss, er sei also bei dieser Mitgliederversammlung an einem Ort verdichteten Denkens, Redens, Handelns und Geschehens. Es galt heraus zu bekommen, wo sich ihm, dem Gesetz der Serie folgend, weitere Synchronizitäten, entspringend aus verdichteten Gesellschaftskräften, auf taten und welche Stilblüten des Moments sie formten.

 

Die Energie, die Micha Welten in den ersten drei Stunden der Mitgliederversammlung entgegen schlug, ließ sich am besten beschreiben mit „Vorwärts“, wobei Ellenbogen, Ausgrenzen, Schneiden, Nach vorne Drängen ins Licht, ins Gesehen, Gehört, Wahrgenommen Werden, um jemand zu sein und, da es sich zumeist um gestandene Männer im besten Glatzenalter handelte, darum, jemand zu bleiben, also, um die eigne Stellung zu sichern, vielleicht sogar auszubauen.

 

Welten hatte sich aufgrund des Web Auftritts und der Facebook Aktivitäten des ISM ein wesentlich jüngeres Publikum vorgestellt. Wie ernüchternd und zugleich beruhigend, die durchs Netz vermittelte Geschwindigkeit und Intensität auf ein gewisses Normalniveau herunter geschraubt zu sehen. Es tat gut, die virtuelle Welt auf den Boden der Wirklichkeit zu bekommen, nur was war das für eine Wirklichkeit? Während Raffaela Bollini als Gastrednerin in einem gebrochenen ItaloEnglisch über die Krise der Gegenwartspolitik sprach, fragte sich Welten weiter, was eigentlich sein eigenes Anliegen an die Politik, an diese Plattform für ein Linksbündnis von SPD, Grünen und Linken war.

 

Ja, ihm ging es um Lebensgemeinschaften, um die Weiterentwicklung der Kibbuzim Bewegung und er stellte fest, obwohl er doch wusste, was ihm wichtig war, brachte er es in seinem Privatleben einfach nicht fertig, sich konzentriert in dieses Thema, als auch in die Lebenswirklichkeit dieser Szene einzuarbeiten. Wieso schaffte er es nicht selber, eine Community aufzubauen bzw. in eine bestehende hinein zu kommen? Er schwirrte wie eine Eintagsfliege im Universum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Entwicklungen umher und brachte es nicht fertig konkret zu werden. Aber was sollte das heißen? Er brauchte ja nur an die Leipziger, die Freiburger oder die Berliner Szenerie zu denken: Zwei, drei Protagonisten, die ihr Grüppchen um sich scharrten, die jeder etwas machen wollten, die aus lauter Eigensinn aber zu klein blieben, um wirklich etwas auf die Beine zu stellen. Funktionierende Lebensgemeinschaften mit basisdemokratischen Strukturen, mit gemeinschaftsbildenden Gruppenabenden und der Selbstbestimmung der Arbeits- und Lebenszusammenhänge blieben selten. Und was hieß schon funktionierende Lebensgemeinschaften? Das war wieder eine Idealisierung, die über die Schwierigkeiten und Auseinandersetzung in den Gemeinschaften hinweg ging.

 

Vorne auf dem Podest hatten sie fünf schwarze Armsessel für ein Talkshow Podium aufgebaut, auf dem also repräsentativ von den maßgeblichen Akteuren des Instituts diskutiert werden sollte. Jascha vom Institut für Partizipatives Gestalten erklärte nun, es würden Fragen ins Plenum hinein gegeben, durch Umdrehen der Stühle in den Sitzreihen sollten Gruppen von rund acht Leuten gebildet werden, um in diesen die Fragen in Form eines Palavers zu diskutieren. Anschließend sollten die Ergebnisse gebündelt nach vorn zum Podium gegeben werden, so dass sie dort repräsentativ diskutiert werden könnten. Das Wort Palodium setze sich also aus Palaver und Podium zusammen. Endlich, dachte Micha, endlich konnte er selber mal was sagen und hören, was die anderen Teilnehmer dachten. Wie von der Leine losgelassene Hunde schien es jedoch weniger um die Fragen zu gehen, als vielmehr das Wort an sich zu reißen, so dass man möglichst die vorgegebenen acht Minuten alleine redete, dadurch die anderen ausschaltete und so der Stärkste wäre mit den besten Chancen demnächst auch einmal oben auf dem Podest zu sitzen. Super! Ein Hauen und Stechen um die ersten, also die besten Listenplätze brach sich Bahn. Micha fand das typisch für die chaotische Phase zu Beginn eines Großgruppen Prozesses.

 

Während dessen schauten sich die Podiumsteilnehmer genüsslich von oben das bunte Treiben an. Sie waren aufgrund ihrer maßgeblichen Bedeutung vorher ausgewählt worden oben zu sitzen, worum die da unten sich im Grunde stritten, natürlich ganz Themen  bezogen. Deutlicher als durch diese Mischform von Podiums- und Kleingruppendiskussion konnte die sich abzeichnende Hierarchie in diesem Verein nicht zum Vorschein kommen. Die dahinter stehende Frage war, wie ließ sich am besten und effektivsten in Großgruppen diskutieren? Gab es vielleicht Formen und Methoden mittels derer die divergierenden Ansprüche der Teilnehmer am besten gestillt werden konnten?

 

Die erste Frage, die ins Plenum gegeben wurde betraf die Selbsteinschätzung der Mitglieder bezüglich der „Positionierung“ des „Instituts“. In seiner Gruppe hörte Micha deutlich einen Universalitätsanspruch heraus: Wir sind in allen gesellschaftlichen Gruppen vertreten und wollen für diese sprechen und für diese arbeiten, denn wir wollen die politische Mehrheit im Land.

 

Micha fand das ziemlich edel und anspruchsvoll, war doch der kämpferische Unterton, mit dem sich gegen die Auswüchse des Neoliberalismus, der Massenarbeitslosigkeit, der Armut und das Elend, die Kriegstreiberei gewandt wurde, nicht zu überhören. Selber fragte er sich jedoch nicht nach der besten strategischen Ausrichtung im politischen Kampf um die Mehrheit, sondern danach, welches positive Lebenskonzept er im Kreis dieser sich selbst als linkes Spektrum begreifenden Versammlung vorfinden würde. Stieß er vielleicht auf eine gangbare Lebensalternative oder nur auf Leute, denen es um die Erringung gesellschaftlicher Vertretungsmacht ging, ohne allerdings Vorschläge und Visionen für ein besseres Leben zu haben?

 

Vom Podium herab erhielt er ernüchternde Antwort von Anke Martiny dahin gehend, dass für sie Politik nichts anderes sei, als die Organisation von tragfähigen Kompromissen.

 

In seinem Podiumsbeitrag fing Lessenich, ein Polit Prof. aus Jena, der sich in die Institutsgründung rein gekniet hatte, mit einem „Ihr“ an, was sofort ein „Ihr da unten“ suggerierte. Sofort schob er entschuldigend nach, er benutze das kollektive Ihr. Welten fragte sich, ob es denn sonst noch ein Ihr gäbe. Vielleicht das wilhelminische Ihr, aus dem auch die Regularien des Vereins- und Versammlungsrechts stammten?

 

Die nächste Palaverrunde begann, innerlich wandte sich Welten ab. Das waren doch alles nur intellektuelle Sprachhülsen, Schablonen, auswendig gelernte Platitüden, eingeübte Sprüche mit denen sich die einzelnen beschmissen, um einen guten Listenplatz zu bekommen. Welten lehnte sich zwischen Resignation und aufmerksamer Spannung zurück. Natürlich ging es darum, mit zu tun, also tat er mit und behauptete, der Ansatz des Palodiums sei genau das, worum es ginge: Das Zusammenbringen des anwesenden Establishments mit dem gemeinschaftsbildenden Leben der Basis, aus der heraus sich  neue Funktionen und Spezialisierungen ergaben. Als Arbeitsergebnis notierte er: Gemeinsamkeiten herstellen, Vorurteile zwischen den Parteien abbauen, Bomben entschärfen, Stimmen hörbar machen, aktive Mitarbeit.

 

Einen ersten Ausfall Versuch erlaubte sich Welten, als es, wie er sagte, zur klassizistischen Liturgie des Vereinsrechts kam. Sie sollte im folgenden anhand der vorgefertigten Tagesordnungspunkte abgearbeitet werden. Als die Frage vom Vorstandspodium kommt, ob es Änderungsanträge zur Tagesordnung gäbe, meldet er sich mutig, schwingt sich schließlich zum Mikro hinauf auf die Bühne und fragt in die Versammlung hinein, ob es nicht eine andere Möglichkeit gäbe, diese aus Kaiserszeiten stammende Versammlungs- und Vereinsrechtsauflagen zu erledigen? Ihm hätte die Arbeit in den Kleingruppen zuvor gut gefallen. Er spürte, wie ihm Hohn, Spott und Ablehnung entgegenschlug, als die Frage aus dem Publikum kam, was für alternative Ideen er denn habe und als er sagte, er wisse nicht, er habe keine Vorstellung, wie es anders gehen könne, lachten sie und Micha fühlte sich ausgelacht und blamiert. Im weiteren Verlauf erntete der Vorstand lauten Beifall und Klatschen für seine geleistete Arbeit.

 

Von oben herab, der Vorstand, das Kuratorium, schüttete nun seine vorgefertigten Leistungen über die 300 Leute aus. Welten hingegen schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Wieder war er aufs Zuhören, aufs Konsumieren und dann zum Abstimmungsautomaten: Hand hoch: Ja, Hand hoch: Nein, reduziert. Er war kurz davor aufzustehen und zu gehen, darauf hatte er keinen Bock.

 

Am Rednerpult stand wieder Herr Dr. Professor Lessenich und dozierte, wobei er sich sichtlich wohl fühlte vor diesem erlesenen Publikum von einiger politischer Macht sprechen zu können. Eigentlich fühlte er sich als der Macher und Gründer, als die tragende Kraft des Instituts und dieser parteiübergreifenden Gesellschaftsplattform. Unter den Gästen hatte er  einige Kollegen gesehen. Mithin handelte es sich um alte Bekannte, die es im akademischen Überbau mittels des Instituts zu etwas bringen wollten. Lessenich zumindest hatte es geschafft sich gegenüber Ypsilanti und Scheer, den SPD Flaggschiffen des ISM, zu profilieren und sich als Ansprechpartner herauszuarbeiten.

 

Auch, als es zu den Neuwahlen des Vorstands, der Beisitzer und vor allem der Sprecher kam, hielt es Welten nicht auf seinem Stuhl. Wieder sprang er auf, sozusagen außerhalb der Tagungsordnung, allerdings mit Genehmigung des Vorstandes, die seine Hand gesehen hatten, angelte sich wieder das Podiumsmikro auf der Bühne – geiles Gefühl da oben zu stehen, wie ein Sänger auf der Bühne, dachte er für einen Moment, wobei er dieses Gefühl sofort als unsachgemäß beiseite drückte, denn er wollte sich ganz bestimmt nicht auf diese Weise profilieren, es ging ihm um die Sache – und monierte, dass die 5 Sprecher keine Gegenkandidaten hätten, so, als ob es ein Verein wäre, der keine Leute zur Auswahl hätte und froh sein könne, wenn überhaupt jemand kandidiere und die Pflichten des Amtes übernähme. Kurz: Er sei doch kein Bestätigungsautomat. Er habe keinen Lust zu solchen Pseudo-Wahlen. Das hätten sie vorher auch schriftlich machen können.

 

Aus der ersten Reihe zischelte entrüstet, erbost Andrea Ypsilanti, die er bis anhin echt nett gefunden hatte, zu ihm hinauf, dann solle er doch selber kandidieren, wobei sie eine gehörige Portion Spott über ihn ausgoss. Micha wusste natürlich nicht darauf spontan zu reagieren und ging darüber hinweg. Es war doch klar, dass er sich zwar aufstellen lassen konnte, aber nicht die geringste Chance hätte, also, was sollte ihr dummer Spruch?  Offensichtlich fand sie diesen Typen da oben auf dem Podium einfach unmöglich. Sie hatten so viel gearbeitet, um das ISM aufzubauen und um so einige wichtige, namhafte Leute ins Boot zu ziehen und da kam so ein Schnösel daher, so ein Möchtegern, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte, und wollte ihnen die wohl verdienten Positionen madig machen. Er konnte froh sein, dass sie nicht schon längst den Saal-Ordnungsdienst geholt hatten, um ihn raus zu werfen. Anarcho hörte es Micha von ganz links nicht schimpfen, offensichtlich hatten sie aus dem spanischen Bürgerkrieg gelernt.

 

Als es dann um die Beisitzer ging, fühlte sich Welten in die Pflicht genommen. Er hob seine Hand in Richtung Vorstandstisch, seine Kandidatur anzumelden. Wieder oben am Bühnenmikro versuchte er sich ganz spontan den 300 Menschen im Saal vorzustellen. Er sei früher in der SPD gewesen, für einige Jahre in der Schweiz gegangen und nun mehr zurück in Leipzig und insofern parteilos, auch habe er noch nie ein politisches Amt inne gehabt, aber nach dem er hier Kritik angemeldet hätte, fühle er sich in die Pflicht genommen, nun mehr auch zu kandidieren. Er erwähnte den Einwurf von Ypsilanti, er solle doch selber kandidieren und dann würde er schon sehen, nicht. Er nannte seinen Namen: Michael Welten laut und deutlich, damit er auf den Wahlzettel eingetragen werden könnte und wiederholte ihn auch noch einmal am Vorstandstisch, damit er von dort per PC Eingabe auf die Leinwand im Hintergrund projiziert werden konnte. Als die Wahlzettel ausgeteilt wurden, sah er jedoch, dass dort sein Name nicht ausgedruckt stand. Vielmehr fanden sich dort vorgedruckt 5 Namen mit einem anzukreuzenden Kreis dahinter. Unten drunter, zum Nachtrag eventueller Spontankandidaturen zwei Linien, auf die die Namen einzutragen wären.

 

Pause. Eine Frau war ihm aufgefallen, auch aus Leipzig, sie wollten sich später zwecks regionaler ISM Gruppen treffen. Beate erzählte, sie hätte wegen der Regionalgruppen mit jemandem aus dem Vorstand gesprochen. Die hielten nicht viel davon. Es ginge doch nur um die bundesweite Pressearbeit und das Hochhalten der Bundesprominenz. Ein anderes Gespräch hatte er mit Eva, einer Frau, die sich gleichfalls wie er weit aus dem Fenster hatte hängen lassen, in dem sie wieder und wieder zum Mikro griff und die vorgefertigten Hierarchien, die Degradierung zum Bestätigungsautomaten und den Klüngel der Politelite angriff. Auch sie erntete keinen Beifall, klar, dass Micha in ihr eine Verbündete sah. Zwischendurch versuchte er sich auszumalen, wie es wäre, tatsächlich gewählt zu werden. Er würde dann öfter zu politischen Sitzungen fahren, würde mehr und mehr hinein gezogen werden in diesen Sud aus Politwissenschaft, Pressearbeit und neuesten Entwicklungen. Nun gut, wieso nicht? Dementsprechend fand er das Ergebnis, dass er mit seiner Kandidatur erzielte ziemlich deprimierend. Auf ihn waren gerade mal 9 Stimmen entfallen. Echt desolat, fand Micha. Sein Agieren hatte also wirklich so wenig Widerhall, so wenig positive Reaktionen zum Ergebnis. Mit seinem systemkritischen Realismus stieß er also nur auf Ablehnung. Sollte er nun beleidigt abrücken und das Weite suchen? Sollte er die Schmach der Ablehnung, den Hohn und Spott, die Schadenfreude als Quittung für sein ungebührliches Betragen aussitzen? Erlitt er jetzt vielleicht sogar eine Persönlichkeitskrise, sich derart zum Politclown gemacht zu haben? In seiner Kandidatenrede hatte er ja erwähnt, es wäre sein erstes politisches Amt. Nicht nur das hätte er nicht äußern dürfen. Die Leute legten Wert auf politischen Professionalismus. Außerdem hätte er keinen Zweifel an seiner Linientreue und SPD Parteizugehörigkeit aufkommen lassen sollen. Darauf zu setzen, dass ein SPD Abtrünniger SPD Stimmen bekommen könnte, war doch eher daneben.

 

Da oben spontan das Richtige zu sagen, das, was ankam, überzeugte, wirkte, mitriss, schien zumindest keine Sache wissenschaftlicher Diskurstechnik zu sein, sondern eine der geübten und gekonnten Rhetorik, wie sie wahrscheinlich dem Klischee nach am besten in den Gerichtssälen geübt werden konnte, aber auch dort sah die Wirklichkeit anders aus, als in einem Kino Thriller der Rechtsanwalt mit seinem Plädoyer.

 

Nach dem die Abstimmungen gelaufen waren, knieten sich die ISM'ĺer in den Entwurf eines Positionspapiers. Irgendwie fand er es lächerlich in der Großgruppe per Änderungsantrag, also per Vortrag der Passagenänderung und nachfolgender Abstimmung, einen Text für die Mitgliederversammlung allgemein verbindlich zu machen. Ihm reicht es. Zieh ab, sagte es in ihm. Ja, gab es noch etwas? Würde er noch einmal wieder kommen wollen? Wer waren denn diese 8 Leute, die ihn gewählt hatten, die sich seinen Namen gemerkt hatten und auf den Abstimmungszettel schrieben? Zumindest bei denen war er angekommen.

 

Seine Rolle bei dieser Veranstaltungen war die des Aufmischers, des Kritikers, des intellektuellen Störenfrieds und Unruhestifters gewesen, so sah er sich jedenfalls angesichts seiner Rebellion gegen die festgefügten Verhältnisse. Während dessen arbeitete das Plenum konzentriert und fleißig weiter am Text. Oh, wie bedeutsam solch Paper, solch Hirnschmalz, solch Phrasen, die auf jedem Parteitag zu Hauf fabriziert wurden und die Lösung der Probleme bringen sollten. Lachhaft war das – nein, er ging, mit ihm nicht, wobei er sich sicher war, er repräsentierte eine gehörige Anzahl von frustrierten, enttäuschten Nicht-Wählern.

 

 

 

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