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Damanhur
Vidracco, Provinz von Turin im Juli 2016, DG

Ihr Lieben, laßt euch beschreiben, was ich sehe, wo ich bin … im Hier und Jetzt auf Amphitheater-Tempel-Sitzstufen mit Blick auf das Halbrund einer blauen Tempelbühne hinter der sich eine dreistufige Altar Empore erhebt. Auf dessen tischartiger Steinplatte ruht ein beige-weißer, wohl marmorartiger Kristallstein, er kann innerlich beleuchtet werden. Dieser Kristall läuft pyramidial spitz gen Himmel zu. Hinter dem Altarsockel führen Treppen hinab zu einem Aus- bzw. Eingang der rechts von einer tönernen Kuh-Figur und links von einer mythologischen Sonnendrachen-Kopf-Figur bewacht wird. Die beiden schauen auf einen leicht abfallenden, rechts und links von, ich zähle, jeweils 10 antike Ton-Säulen gesäumten und konisch sich verengenden auf den Bühnentempel mit dem dahinter liegenden runden Amphitheater zu. An der Basis der zwei schräg weglaufenden Säulenreihen steht, wiederum zwischen zwei Säulen, die ägyptische Götterfigur des Horus: Lendenschurz, brauner, nackter Oberkörper, wie auch die Beine, der gedrungene Kopf, der eines Falken, und in der rechten Hand einen auf den Boden gestellten, golden wirkenden Stab, dessen oberes, knäulartiges Ende, höher als der Kopf, nicht in den Himmel ragt, sondern sich erst beim Näherkommen als ein Schlangekopf erweist, so dass es sich bei dem Stab um eine Schlange handelt.


DamanhurRadioFeature

Vidracco, Provinz von Turin im Juli 2016, DG




Gemälde des Orakelrituals von Damanhur


Ich befinde mich also in den Sitz-Rängen eines Freilicht-Tempelraumes. Es ist um die Mittagszeit. Der Sonnenschein wandert gerade zu Horus hin, so dass es dort zu heiß und zu hell zum Schauen und Schreiben sein dürfte. Ein Auto fährt dort unten gerade an der Horusfigur vorüber, wohl zu den neben der Tempelbühne gelegenen Werkstätten, auch gehen gelegentlich Leute vorüber. Die Szenerie wirk derart ganz profan und eingelassen in das alltägliche Leben.
Auf den Stufen der Sitze des Amphitheaters - es wirkt alles so selbst gemacht, eher billig und dem Verfall anheim gegeben, eben keine Sklavenarbeit und edlen Materialien wie in der Antike Marmor - sehe ich am Rand die rote Tonfigur eines Kalbskopfes und dort kleine Götterfiguren und einen Tonpokal und dort eine nackte, knieende Frau, sich vorbeugend und erotisch. Die beiden vordersten Säulen der Säulenkolonade links und rechts sind noch im Tempelrund des Amphitheaters. Sie sind auf blauem Grund mit einer goldenen Schlange bemalt. Alle Säulenköpfe sind mit Ornamenten und Köpfen und Tieren reich verziert. Wenn ich, übertragen in christliche Kirchenschiff Räumlichkeiten, hinter dem Altar sitze, auf dem sich der spitz zulaufende Kristall findet, dann zeigt sich mir nun, was sich hinter einem solchen Altar, sozusagen im innersten Inneren, normaler Weise das geheimste Geheimnis im verschlossenen Dunklen eines Tempels, hier aber im Freien, im Licht der Sonne und bei Nacht im Schein des Mondes und der Sterne, befindet, nämlich eine Bühne. Ohne weitere Barriere, allerdings etwas erhoben im Kreisrund des Amphitheaters, verspricht sie einige Verbundenheit mit den Zuschauern, den Menschen, deren Mitte sie bildet. Eigentlich läuft die ganze Architektur und Gestaltung der Säulen, des abschüssigen Terrains und des kreisrunden Tempeltheaters auf eben diesen horizontalen Bühnenmittelpunkt zu. Die in den Himmel weisende Vertikale ergibt sich dann mit der Linie durch die Spitze des Kristalls. Es ist eine symbolträchtige Anordnung, in die sich die Ganzheitlichkeit des Menschen durch das Betreten dieses Ortes einläßt. Ihre architektonische Gestaltung hat etwas fokussierendes, auf die Spitze, auf den Punkt bringendes, als auch etwas heraus- und empor hebendes.

Aus mythologischen Sagen, aus der Geschichtsschreibung sind Tempel-Anlagen und antike Götterkulte bekannt. Das Orakel von Delphi wurde von der Christenheit relativ spät zerstört. Ihre Besichtigung zeigt das Wahre, Echte von einst. Hier jedoch ist es lediglich ein Nachbau, ließe sich kritisch negativ sagen. Derart wäre es ein Verständnis dieses Ortes und der spirituellen Lebensgemeinschaft Damanhur als spielten die hier lebenden Menschen lediglich einen antiken Kult, so in etwa wie sich Mittelalter-Märkte und Ritterspiele als rentierliche Einnahme-Quellen etablierten, in dem sie Geschichte lebendig machen. Dadurch, dass die äußeren Formen vorhergehender Epochen nicht nur museal betrachtet werden, sondern selber zum attraktiven Arbeitsgegenstand avancieren, haucht sich ihnen nicht nur neues Leben ein. Zum einen ergibt sich ein lebendigeres Verständnis verschütteter Lebensformen und Kulte. Es tritt hervor, was sozusagen auf der Strecke menschheitlicher Zivilisations-Entwicklung blieb. Kurzum, die neo-paganistische Revitualisierung der New-Age Kulte vermag das Uralte verschütteter Tempelkulte nicht nur an die Oberfläche des gegenwärtigen Zeitgeistes zu heben, sondern sie vermischt es unweigerlich mit den zivilisatorischen Errungenschaften der Gegenwart. Fernöstliche Religionen erfahren durch ihre okzidentale Integration dieselbe Modernisierung. Sie unterscheiden sich erheblich von ihren Wurzeln. Ein tibetischer Buddhist wird zum Beispiel mit den im Westen praktizierten Formen buddhistischer Meditationspraxis wenig anfangen können und zumeist als Verrat an der traditionellen, ihm geläufigen Form empfinden.

Was also bringt der Kult von Damanhur in der Gegenwart zu Tage und zu Wege?

Unten, im Tal wird geschossen. Befindet sich dort ein militärischer Übungsplatz, ein Schießplatz. Das Knallen erinnert mich nicht nur an Krieg und erbitterten Kampf, es erinnert mich an Chamula in Chiapas, Mexiko. Chamula und die umgebenden Tzotzil Maya Indianerdörfer in der Nähe der Stadt San Cristobal de las Casas wurden wegen ketzerischer, heidnischer Maya-Riten schließlich vom Vatikan exkommuniziert. Bei meinem Besuch vor 20 Jahren hörte ich es dort ebenso fortwährend schießen und knallen. Eine Schamanin erklärte mir, die Menschen würden derart die bösen Geister abhalten. Durch dieses ständige Neujahrsgeknalle blieben die mißgünstigen, neidischen und zerstörerischen Geister fern.

In gewisser Weise handelt es sich bei dem Geknalle um ein synchronizistisches Ereignis. Es läßt mich das Tzotzil Indianerdorf Chamula erinnern, dass sich gleichfalls aus dem römisch-katholischen Glaubensverband heraus löste, um wieder eine Verbindung zu der kutur-historisch vorhergehenden Religion herzustellen. Das, was sich in der spirituellen Gemeinschaft des italienischen Damanhur entwickelt, als ein durch Fantasie und imaginäres Vorstellungsvermögen bewirktes Freilegen antiker Kulte zu verstehen, würde aber unterschlagen, dass zugleich Momente der Moderne, des technischen und industriellen Fortschritts in den Kult von Damanhur aufgenommen werden. Kurzum, der Kult von Damanhur scheint gemeinschaftliches Leben als auch einen neuartigen Bezug zu Umwelt, Tieren und Techniken, wozu auch die verschiedensten Kunstformen gehören, herzustellen.


Damanhur Get

Wenn meine Erzählung unvermittelt mit der Beschreibung des Offenen Tempels von Damanhur begann und damit der Leser quasi direkt in die Ränge des Amphitheater-Tempels versetzt wurde, dann werde ich weder dem einfühlsameren und empfindlicheren Leser noch der lebendigen Kultgemeinschaft von Damanhur gerecht. Vielmehr verhalte ich mich derart wie ein ungebildeter Tourist, der sich die dickfällige Freiheit rücksichtslos herausnimmt, mal so eben nicht nur in den Garten eines Privatgrundstücks, sondern in eine Art „Heiligtum“, also einen Ort der innerlichen und auf sich selbst zurückverweisenden Betrachtung zu stapfen, womöglich sogar mit dem arroganten Empfinden, selber einer Kultur und einem Glauben zuzugehören, die sich als überlegen und besser im Verhältnis zu der vorgefundenen verhält. Ohne Frage, in Damanhur gibt es so einige Reglementierungen, Zugangsberechtigungen, die zumal finanziell belegt sind. Die Besichtigung der malerischen Höhlentempel kostet und der Eindruck, die Gemeinschaft erwirtschaftet über den Eintritt zu ihren Anlagen erhebliche Summen, ist nicht von der Hand zu weisen. Klar ist aber auch, diese Anlagen, die Malereien, die Skulpturen, die Pflege und Restaurierung der Wasserschäden in den Höhlen, stellt einen enormen Arbeitsaufwand dar. Nicht nur indische Hindu-Priester halten vor Beginn ihrer sakralen Zeremonien ihre Schale hin, ein Umstand, den staatlich anerkannte und mittels automatischem Beitragsabzug vom Einkommen finanzierte christliche Glaubensgemeinschaften nur als unfein, ineffektiv und dumm mitleidig belächeln.

Bei einem Besuch in Damanhur treten also durchaus materielle, finanzielle Aspekte zu Tage, die deutlich machen, es handelt sich nicht um eine selbstlose und für die Gemeinschaftsmitglieder wie Besucher kostenlose Angelegenheit. Wie überall, so will man auch hier von der eigene Arbeit leben können. Tatsächlich gibt es in diesem ländlichen Vorgebirgsgebiet wenig Arbeit und Einkommensmöglichkeiten. Erstaunlicher Weise haben die etwa 25 Nuclei, also die im Tal verstreuten Wohngemeinschaften und Kollektive aus denen die Federation von Damanhur besteht, an die 60 Unternehmen gegründet. In der Region stellen sie eine Wirtschaftskraft dar.

Ich hatte weiter oben gefragt, was für Feste und Rituale im Offenen Tempel als auch in den Tempelhöhlen gefeiert würden. Sie muteten mir geheim an und so, als wenn es einer persönlichen Einladung und Bekanntschaft bedürfte, an ihnen teilzunehmen. Mal so eben zu einem öffentlichen Termin gehen und mitmachen, war nicht. Freilich, dies sind Empfindungen eines Fremden, eines Nicht-Dazugehörigen. Sie spiegeln die allmähliche Einbeziehung in ein zuvor unbekanntes Gemeinschaftsfeld. So hörten wir über „zufällige“ Mund-zu-Mund Informationen eines Bekannten unserer CouchSurfing-Gastgeberin, dass es am Abend ein besonderes Fest und Ritual geben würde, nämlich das monatlich stattfindende Damanhur Get. Jetzt, im Nachgang, sehe ich es auf den Web-Sites der Gemeinschaft beschrieben, auch, welche Forderungen die Gemeinschaft stellt, an diesem Ritual teilnehmen zu dürfen. Integrationskräfte und reglementierende Ausgrenzungskräfte halten sich derart die Waage.

Um am Damanhur Get teilnehmen zu dürfen, hatten wir Mitglied der „Spirituellen Gemeinschaft“ zu werden. Das war eine der vier Schulen von Damanhur. Die Aufnahme bestand in einem professionellen, standardisierten Gespräch mit an- bzw. abschließender Weihung und einem kleinen Aufnahme-Ritual und zwar im Ursprungskeller der ersten Wohngemeinschaft von Damanhur. Inzwischen ausgebaut und mit Bildern sowie heiligen Schriftzeichen bemalt, verdeutlichte sich einmal mehr, dass der Kult von Damanhur einen katakombenhaften, unterirdischen, mediterranen und darum kühlen, dunklen, dem Sonnenlicht entzogenen Ursprung hat. Wir hatten eine allgemeine Gelübdeformel nachzusprechen und erhielten dann ein simples, pinkfarbenes Wollfädchen ums Handgelenk gelegt als Zeichen der nunmehrigen Zugehörigkeit zum Popolo spirituale.

Am Abend wurden wir Neuen, eine Gruppe von 6 Leuten, neben dem Offenen Tempel von Gorilla Hibisca empfangen und erhielten eine Einweisung und Erläuterung des Rituals. Hauptsächlich ging es dabei um Danksagungen und Bitten für kommende Projekte der einzelenen Nuclei, also der Wohngemeinschaften und Kollektive. Die Ränge des Tempel-Amphitheaters waren zur Hälfte mit zumeist älteren Leuten in roten, gelben, blauen und gelegentlich weißen Umhängen gefüllt. Auf dem Halbrund der Tempelbühne flackerte in einer rechteckigen Feuerschale ein Holzfeuer. Ein Mann in blauem Gewand stand vor einer Art Katheder und las daraus offensichtlich heilige, segnende Worte sowohl auf Italienisch als auch in der Heiligen Ritualsprache von Damanhur vor. Links auf der Bühne sah ich zwei „Tänzerinnen“, die Eurythmie ähnlich die rituellen Sprachzeichen tanzten bzw. mittels synchroner Hand- und Armbewegungen darstellten. Eine Reihe von Mitgliedern eines Nuclei brachte symbolhafte Zeichen dar, die einzeln unter heiligenden Worten ins Feuer gelegt wurden. Es gab eine Sequenz in der eben solche Gaben bzw. Symbolgaben auf einem weißen Tuch zu Musik und Gesang um das Feuer getragen wurden. Der Mann im blauen Gewand, wirkte wie ein Oberpriester, wobei ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, eigentlich handele es sich um das Abbild eines römisch-katholischen Priesters, dessen Urvorbild der junge Julius Ceasar war und zwar in seiner wohl nie ausgeübten, doch vielleicht erträumten Funktion als Oberpriester des Jupiterkultes, also als Flamen Dialis des Iuppiter Optimus Maximus. Wenn er wiederholt zum Feuer ging, die Symbolgaben mit heiligen Worten und Zeichen dem Feuer weihte, dann war mir als schaute ich 2000 Jahre zurück direkt in ein Temepelritual in dem er die heiligen Handlungen vollführte. Sein Höhepunkt stellte eine Rede in der heiligen Ritualsprache dar, wobei er zu den Sakralworten die entsprechenden Zeichen über dem Feuer in die Luft malte. Ja, das war mehr als höchste Kunst. Es ließ mich fragen, inwieweit es überhaupt irgendwelche Worte einer Sprache waren, die die von den Menschen erdachte, erwünschte und imaginierte Gottheit verstand. War es nicht lediglich der noch so ausgeklügelteste und verfeinerte Versuch des Menschen mit der numinosen Leere aus der die Schöpfung des Universums samt der Menschenwelt erfolgte, in Verbindung zu treten, um derart wohlgesonnenen Einfluss auf die menschlichen Geschicke zu nehmen?

Zum Abschluss dann ein gemeinsames Lied aller Anwesenden in der heiligen Sprache, wozu entsprechende Zettel verteilt worden waren. Beschwingt fröhlich ging die ganze Gemeinde dann auseinander, hier und da freundliche Worte wechselnd. Wir blieben noch eine Weile sitzen, um das Erlebte zu besprechen. War die Heilige Sprache nichts anderes als eine Nachahmung der Wirkung des Lateins oder des Sanskrits? Sakralsprachen, die den Bezug zur Alltagswelt verloren hatten, im Ursprung vielleicht auch niemals hatten und doch in der Lage waren, herauszuheben aus der Alltäglichkeit mit ihren Mühen und Nöten, auf dass die „Kinder-Menschen“ von ihren erwachsenen Göttern Hilfe, Stärke und Glück empfingen?

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